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„Es geht um Bedingungen von Migration“
Staatsanzeiger : Was war und ist der Amerikanische Traum eigentlich?
Franziska Dunkel: Es gibt nicht einen, sondern viele „American Dreams“, darum verwenden wir den Begriff im Ausstellungstitel auch im Plural. Für Amerikanerinnen und Amerikaner ist der „American Dream“ ein zentrales Element in ihrem Selbstbild, wobei er im Lauf der Geschichte vielfach umgedeutet wurde. Anfangs beinhaltete der Traum das Versprechen von Freiheit und Chancengleichheit. Berühmt wurde er in den 1930er Jahren durch den Historiker John Truslow Adams, der vom „amerikanischen Traum eines besseren, reicheren und glücklicheren Lebens für alle Bürger gleich welchen Standes“ sprach. Im Lauf des 20. Jahrhunderts wurde das dann immer materialistischer gedacht, im Sinne von einem Aufstiegsversprechen – jeder (und jede) kann durch eigenes Bemühen reich werden, vom Tellerwäscher zum Millionär . Heute vereinnahmen Politiker jeder Couleur den amerikanischen Traum je anders für sich. Am 1. November 2023 verkündete zum Beispiel Joe Biden, seine Wirtschaftspolitik „Bidenomics“ sei “just another way of saying ,the American Dream’” – er will vor allem mittelständische Unternehmer und Farmer fördern.
Man sieht, der „American Dream“ ist als Mythos den Amerikanern immens wichtig. Aber er ist eben auch ein Magnet für Einwander*innen, und das ist das, was uns besonders interessiert. Wir schauen in der Ausstellung auf fünf zentrale Aspekte des „Amerikanischen Traums“ – Amerika als unberührtes, zu besiedelndes Land, als gelobtes Land, als Land der Freiheit, als Land der Rettung vor der Verfolgung im Nationalsozialismus und als Land der Chancen.
Warum wollten die Menschen in Amerika ein neues Leben beginnen?
Auch das ist natürlich vielschichtig. Die heutige Migrationsforschung ist davon weggekommen, nach „push“- oder „pull“-Faktoren zu suchen, die Menschen zur Auswanderung bewegen. Es ist immer ein Bündel von Motiven. Am Anfang der Ausstellung steht daher der Reutlinger Finanzbeamte und Wirtschaftswissenschaftler Friedrich List, der 1817 zum ersten Mal systematisch Auswander*innen nach ihren Motiven befragt hat, und auch damals waren die Antworten vielschichtig. Einer erzählt, er sei am Verhungern und lebe von erfrorenen Kartoffeln des Vorjahrs, die er aus den Feldern ausgräbt; einer geht aus Abenteuerlust, viele stöhnen über zu hohe Abgaben und behördliche Schikanen. Auswanderung diente als eine Art Ventil für Krisen des kapitalistischen Systems in Europa . Die USA boten ein großes Wachstumspotential. Für politisch Verfolgte, zum Beispiel nach der Revolution 1848/49, war Amerika das Land der Freiheit, und im Nationalsozialismus Verfolgte versuchten sich nach Amerika zu retten. Nur dass es dort mittlerweile Einwanderungsbeschränkungen gab, seit 1924 eine Quote von jährlich 25.957 Menschen aus Deutschland, und diese Quote wurde nach 1933 nicht erhöht; und so wurde die Warteliste immer länger, bis dann ab 1941 niemand mehr offiziell in die USA konnte.
Was ist der Schwerpunkt der Ausstellung?
Uns interessiert vor allem, wie es den Auswander*innen nach ihrer Ankunft in Amerika gegangen ist. Unsere Geschichten handeln von erfüllten und geplatzten Träumen , von christlichen Kommunen in Pennsylvania, von Begegnungen mit Indigenen oder vom Engagement der Immigrant*innen im amerikanischen Bürgerkrieg. Diese Geschichten eröffnen ein Panorama von Einzelschicksalen. Aber es geht auch um die Bedingungen von Migration, die diese Einwandererschicksale beeinflussten: welche Regeln und Gesetze gab es, welche Transportmittel, was erleichterte das Ankommen in der neuen Gesellschaft? Das können und sollen die Besucher*innen zurückbeziehen auf die Situation von Immigrant*innen nach Baden-Württemberg heute.
Das Gespräch führte Ralf Schick