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Wissenschaftsgeschichte

Dr. Sex aus Mannheim und die Vermessung der Triebe

Seine Lehren sind zwar weitgehend überholt, dennoch gilt er als Pionier einer damals revolutionären Disziplin. In einem prüden Jahrhundert begründete der Mannheimer Arzt Richard von Krafft-Ebing (1840-1902) die Sexualwissenschaft.

Der Arzt Richard von Krafft-Ebing war ein Pionier der Sexualwissenschaft.

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Mannheim. Lack und Leder, Fetisch- oder Fesselspiele sind spätestens seit dem Erfolg der „Shades of Grey“-Reihe keine Tabuthemen mehr. Gerade über Masochismus diskutiert die Öffentlichkeit zwangloser als früher. Es war der badische Nervenarzt Richard von Krafft-Ebing, der das Phänomen, Schmerz und Erniedrigung als lustvoll zu empfinden, erstmals wissenschaftlich dargestellt hat.

Der Spross einer Beamten- und Juristenfamilie kommt 1840 in Mannheim zur Welt. Entgegen der familiären Tradition entscheidet sich Krafft-Ebing für die Medizin. Während des Studiums in Heidelberg wohnt er bei seinem Großvater mütterlicherseits, einem renommierten Strafrechtler. Möglicherweise hat er den Enkel für die Kriminalpsychologie begeistert. Zunächst freilich wirkt der junge Arzt an verschiedenen Krankenanstalten. In Baden-Baden betreibt er kurzzeitig eine eigene Praxis.

Ein Fokus seiner Arbeit lag auf der männlichen Homosexualität

Neben seiner Tätigkeit in der Patientenversorgung macht Krafft-Ebing durch Gerichtsgutachten und Studien auf sich aufmerksam. Ein Fokus seiner Arbeit liegt auf der männlichen Homosexualität, die im Kaiserreich unter Strafe stand. Krafft-Ebing indes vertrat die Position, „Conträrsexuelle“ gehörten nicht vor den Richter: „Abgesehen von der falschen Prämisse, entwickelt und bethätigt sich ihre Vita sexualis seelisch und körperlich gerade so wie beim Normalmenschen“. Die „unglückliche perverse Naturanlage“ lasse sich heilen, etwa durch Hypnose.

Nach heutigem Kenntnisstand erscheint diese Pathologisierung der Homosexualität zwar ähnlich überholt wie deren Kriminalisierung. Doch mit Krafft-Ebing äußert erstmals jemand Vorbehalte gegen den umstrittenen „Schwulenparagrafen“ (§175 StGB). Vollständig gestrichen wurde er erst 1994.

Aufgrund seiner Publikationen erhält der streitbare Psychiater 1873 den Ruf auf einen Lehrstuhl an der Universität Graz. Später wechselt er nach Wien. Schon in der steirischen Hauptstadt entsteht sein Hauptwerk „Psychopathia Sexualis“. Inmitten einer prüden Epoche schlägt das Gründungsdokument der deutschen Sexualwissenschaft ein wie der berühmt-berüchtigte Kinsey-Report aus den 1940ern beziehungsweise 50ern.

Krafft-Ebing wird zum Star. Nicht nur Fachkollegen lesen den Dr. Sex der Kaiserzeit, auch Laien. Bis weit ins 20. Jahrhundert erlebt der Band zahllose Neuauflagen. Lieferte er doch die bis dato umfassendste Vermessung des menschlichen Trieblebens und der daraus resultierenden Störungen: von Anesthesia sexualis (fehlendem Geschlechtstrieb) über Exhibitionismus bis Zoophilie.

Moderne Sexualität, behauptete der Philosoph Michel Foucault, werde dadurch bestimmt, wie man über sie redet. In diesem Sinne wirkt Krafft-Ebing bis heute nach, denn er führte zahlreiche sprachliche Neuschöpfungen ein. Die bekannteste ist der Masochismus, in Krafft-Ebings Definition „erduldete Grausamkeit und Gewalthätigkeit mit Wollust“.

Masochistische Obsession als Gegenstück zum Sadismus

Inspiriert wurde er von Leopold von Sacher-Masoch, der die erotische Unterwerfung von Männern literarisch ausfantasiert hat. Krafft-Ebing begriff die masochistische Obsession als Gegenstück zum Sadismus. Ein Terminus, den der Arzt aus dem Französischen übernahm und der sich auf Marquis de Sade bezieht.

Obwohl die Thematik innovativ war, basiert „Psychopathia sexualis“ auf einem konservativen Moraldenken. Praktisch jede Form von Intimität, die nicht die Fortpflanzung zum Ziel hat, ist für Krafft-Ebing psychiatrisch auffällig.

Zu seinen aufmerksamsten Lesern gehörte Sigmund Freud: Wie Krafft-Ebing gewann auch der Vater der Psychoanalyse seine Erkenntnisse aus individuellen Fallgeschichten. Freud widersprach jedoch Krafft-Ebings Annahme, abweichendes Sexualverhalten sei erblich. Letzterer beharrte zunächst auf dem hereditären Modell, übernahm dann aber teilweise die psychoanalytische Theorie vom Einfluss des sozialen Umfelds. Er empfahl sogar, Freud auf eine außerordentliche Professur zu berufen.

Auch für die Nachwelt zählen weniger die Irrtümer des Mannheimers als seine bahnbrechende Leistung: die Analyse der Libido in all ihren Spielarten. Deutschlands erster Schwulen- und Lesbenrechtler Magnus Hirschfeld verteidigte “Psychopathia Sexualis“ als Meilenstein der Aufklärung: „In Wirklichkeit gibt es kaum ein zweites Buch, das so unendlichen Segen gestiftet hat wie dieses Werk“, so Hirschfeld.

Von Sacher-Masoch zum Masochismus

Den Namen Leopold von Sacher-Masoch hörte Krafft-Ebing vermutlich erstmals in Graz. Der Schriftsteller lehrte dort als Privatdozent für Geschichte. Sein Hauptwerk ist die Novelle „Venus im Pelz“. Deren Held lässt sich von einer schönen Witwe auspeitschen. Sacher-Masoch lebte die Lust am Schmerz auch in realen Beziehungen freizügig aus. Die Nutzung seines Namens durch die Medizin missfiel ihm aber. Er versuchte, juristisch gegen Krafft-Ebing vorzugehen.

Richard von Krafft-Ebing wurde inspiriert von Leopold Sacher-Masoch. Der schrieb eine Novelle, in der der Protagonist aus Lust ausgepeitscht wird. Fotos: wikimedia/IMAGO/iskov sergey

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