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Die „kleinen Hitler“ waren oft wichtiger als die Bürgermeister
Stuttgart. Richard Drauz war etwas länger Kreisleiter von Heilbronn als das „Tausendjährige Reich“ Bestand hatte: Nämlich von 1932, ein Jahr vor Hitlers Machtergreifung, bis zum Ende des Weltkriegs und der nationalsozialistischen Herrschaft 1945. Berüchtigt war er, selbst unter seinen Parteigenossen, für sexuelle Eskapaden und seine Selbstherrlichkeit. Dies erregte selbst bei Parteigenossen Anstoß, ohne dass seinem Tun Einhalt geboten worden wäre.
Kurz vor Kriegsende ließ Drauz einen Parteigenossen wegen vermeintlichen Defätismus kurzerhand hinrichten und mehrere Bürger erschießen. Wenig später suchte er selbst sein Heil in der Flucht. Vergebens. Nach Kriegsende wurde er 1946 wegen Beteiligung an der Tötung eines kriegsgefangenen US-Soldaten von einem Militärgericht zum Tode verurteilt und hingerichtet. Post mortem bestätigte eine Spruchkammer 1949 dieses Urteil. „Das brutale und skrupellose Verhalten und Auftreten des Betroffenen gegenüber einer wehrlosen Bevölkerung zur Erhaltung der Macht des Regimes ist weithin im Lande Württemberg-Baden bekannt“, heißt es dort.
Viele stammten aus der Mitte der Gesellschaft, waren Lehrer oder Arzt
Besonders drastische Beispiele für Machtmissbrauch und Willkür und wohl durch Patronage bedingten Aufstieg wie etwa beim Wäscher Ernst Bäckert, Kreisleiter und dann kurzzeitiger Bürgermeister von Meßkirch, oder des ausbildungslosen ehemaligen Bahnarbeiters Eugen Maier, von 1931 bis 1940 Kreisleiter in Ulm-Fils, drohen allerdings den Blick dafür zu verstellen, „dass viele Kreisleiter keineswegs marginalisierte Existenzen waren, sondern vielmehr aus der Mitte der Gesellschaft stammten und zudem in der Regel auch nach dem Krieg oft unbehelligt eine bürgerliche Existenz führen konnten“, wie der Historiker Wolfgang Proske schreibt.
Er hat eigener Aussage zufolge alle NS-Kreisleiter in Baden, Württemberg und dem ab 1940 besetzten Elsass „erstmals systematisch aufgelistet und publiziert“: in einem Lexikon, das mit seinen Kurzbiografien soziologische Beobachtungen erlaubt. Lehrer – recht häufig –, Chemiker, ja sogar vereinzelt Theologen und Pfarrer wurden demnach Kreisleiter.
So etwa Heinrich Sauerhöfer ab 1937 in Kehl, seit 1941 dann in Schlettstadt im Elsass. Nach dem Krieg konvertierte er – und war mehrere Jahre in München als katholischer Religionslehrer tätig. Ungewöhnlich war es freilich – Universitätsstadt hin oder her –, dass von den acht Kreisleitern in Freiburg zwischen 1932 und 1945 gleich sechs, also drei Viertel, einen Doktortitel trugen.
Wie der Historiker Peter Longerich in seiner Hitler-Biografie zur Lage in Deutschland um 1930 schreibt: „Die NSDAP war die einzige Partei in Deutschland, die für Menschen aus allen sozialen Schichten und aus beiden Konfessionen attraktiv war.“
Oft an Synagogenverbrennungen und Kriegsverbrechen beteiligt
Die Kreisleiter waren von großer Bedeutung für die alltägliche Herrschaftspraxis des NS-Regimes. Mit der Gemeindeordnung von 1935 wurden sie zu kommunalpolitischen Beauftragten der Partei, die bei Ernennung von Bürgermeistern und Gemeinderäten mitwirken sollten. Letztlich ging ihre Rolle Proske zufolge somit weit über die Partei hinaus: „Die Kreisleiter erstarkten in unerwarteter Eigendynamik und spielten fortan ganz eigene Rollen in einem sich polykratisch aufblähenden Machtapparat.“
Als die Trennung zwischen Staat und Partei mehr und mehr verloren ging, behielt laut Proske im Falle eines Konflikts ein Kreisleiter gegenüber seinem Landrat oder dem Oberbürgermeister zumeist die Oberhand. „Als besonders wirksam erwies sich für ihn seine Befugnis, ‚politische Beurteilungen‘ zu schreiben.“
„Alle Lebensbereiche zu erfassen und im nationalsozialistischen Sinne zu durchdringen“, das war die Aufgabe, die die Partei dem Kreisleiter zugedacht hatte. So steht es im Organisationshandbuch der NSDAP von 1937. Für den Durchschnittsbürger waren sie besonders präsent. „Sie waren kleine Hitler, die im Alltag als kaum kalkulierbare Exponenten der Naziherrschaft unverhofft in Erscheinung treten konnten“, so Proske.
Ein engmaschiges Netz vor Ort – dem Kreisleiter unterstanden die Ortsgruppenführer und die sprichwörtlichen Blockwarte – sollte alle in die „Volksgemeinschaft“ einbinden – außer denen, die nicht dazugehören durften. So zuvorderst die jüdischen Mitbürger. Viele Kreisleiter wirkten maßgeblich an den planmäßigen Ausschreitungen und der Zerstörung von Synagogen in der Pogromnacht vom 9. November 1938 mit.
Laut Proske wurde ein einziger Kreisleiter wegen zu wenig Antisemitismus aus dem Amt entfernt: Friedrich Kustin im Jahr 1933 in Esslingen. Im Krieg organisierten Kreisleiter Hilfsmaßnahmen bei Luftangriffen und ab 1944 den Volkssturm – und wirkten mitunter an den völkerrechtswidrigen Erschießungen abgestürzter feindlicher Bomberpiloten mit, die einigen von ihnen nach Kriegsende die Todesstrafe eintrug.
Wie die NSDAP aufgebaut war
Der Führer Adolf Hitler stand an der Spitze der NSDAP, sein Stellvertreter war Rudolf Heß. Darunter folgten auf der Hierarchieebene 18 Reichsleiter, 40 Gauleiter und 855 Kreisleiter. Letztere standen an der Spitze einer eigenen Dienststelle und hatten einen Stab von – in großen Orten – bis zu 40 oft hauptamtlichen Angestellten. Aufgabe des Kreisleiters war es laut Partei-Handbuch, „alle Lebensbereiche zu erfassen und im nationalsozialistischen Sinne zu durchdringen“.
Kurzbiografien von Kreisleitern in Baden, Württemberg und Hohenzollern
- Theo Rehm: Religionslehrer, Zahnarzt und Abgeordneter
- Hans Rauschnabel: Lehrer, Leiter von Sängerbund und Silchermuseum
- Richard Drauz: Ingenieur, Sturmbannführer und Verlagsleiter
- Karl Buck: Gestapobeamter, Lagerkommandant und Ingenieur
- Gustav Oexle: Matrose, Ratsschreiber und im Stab von Heß
- Adolf Schuppel: Schuldirektor und stellvertretender Gauleiter