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Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus hat auch viele Alltagshelden hervorgebracht

Lange Zeit hieß es immer wieder, man hätte ja eh nichts gegen die Nazis machen können. Doch es gab, wenn auch nicht sehr viele, Menschen, die sich das trauten, etwa bei der Fluchthilfe oder beim Verschicken von Flugblättern. Am 27.01. wurde bei der Gedenkstunde des Landtags an solche „kleinen Helden“ erinnert.
Schwarz-Weiß Bild von Hannelore Hansch

Hannelore Hansch versteckte Berliner Jüdinnen bei sich in Heidelberg.

STUTTGART. Zu den bekanntesten Persönlichkeiten des Widerstands gegen den Nationalsozialismus zählen aus dem Südwesten sicherlich die Geschwister Hans und Sophie Scholl und deren Widerstandsgruppe der Weißen Rose. Oder die Brüder Berthold und Claus Graf Schenk von Stauffenberg mit ihrem gescheiterten Attentat auf Adolf Hitler.
Doch es gab auch einige Menschen, die weniger bekannt sind und sich doch an verschiedensten widerständischen Aktionen beteiligt haben. Dazu zählten etwa „Frauen, die sich an der Herstellung und Verbreitung antinazistischer Flug- und Tarnschriften beteiligten“, sagt Nicola Wenge, Wissenschaftliche Leiterin am Ulmer Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg, KZ-Gedenkstätte.

Ulmer Schüler machten ein Flugblatt versandfertig

Viele dieser Frauen standen politisch links wie die Stuttgarterin Lilo Hermann. Die junge Mutter eines kleinen Sohnes bezahlte ihr Bemühen, das Ausland vor der deutschen Kriegsrüstung zu warnen, mit dem Leben.
Ein weiteres Beispiel für die „kleinen Helden“ des Widerstands ist auch eine Gruppe von Ulmer Schülerinnen und Schüler, die mit Hans und Sophie Scholl befreundet waren und das fünfte Flugblatt in der Ulmer Martin-Luther-Kirche versandfertig machten und verschickten. „Franz Joseph Müller, Hans und Susanne Hirzel sowie Heiner Guter wurden dafür vom Volksgerichtshof im zweiten Weißen-Rose-Prozess zu Gefängnisstrafen verurteilt“, weiß Wenge.

Heiner Guter, schwarz-weiß Foto
Heiner Guter
Susanne Hirzel. schwarz-weiß Foto
Susanne Hirzel
Franz Müller, schwarz- weiß Foto
Franz Müller

Oder der Sozialdemokrat Emil Henk, der in der Rhein-Neckar-Region bis zur Verhaftung 1934 Kopf der sogenannten Rechberg-Gruppe war. „Die eigene Gefährdung hat ihn jedoch nicht davon abgehalten, 1944 und 1945 insgesamt dreimal für Wochen Gertrud Jaspers, die jüdische Ehefrau von Karl Jaspers, zu verstecken, als ihr die Deportation drohte“, sagt Angela Borgstedt, Geschäftsführerin der Forschungsstelle Widerstand gegen den Nationalsozialismus im deutschen Südwesten an der Universität Mannheim.

Hannelore Hansch versteckte zwei Jüdinnen

Borgstedt nennt als weiteres Beispiel auch Hannelore Hansch, die nach NS-Kategorien „Halbjüdin“ war. „Sie war an einem Gesprächskreis oppositioneller Juristen, unter ihnen der spätere Landeswirtschaftsminister Hermann Veit, beteiligt und versteckte 1943 zwei Berliner Jüdinnen“, sagt Borgstedt.
In einem bei der Landezentrale für politische Bildung 2022 erschienenen Band hat Borgstedt viele solcher „kleinen Heldinnen und Helden“ vorgestellt und unter anderem der Swingjugend, aber auch Wehrmachtsdeserteuren ein Kapitel gewidmet. Auch die Geislinger Frauen werden dort erwähnt, die sich 1941 dagegen gewehrt hatten, dass die Ordensschwestern, die seit vielen Jahren den Kindergarten leiteten, „braunen Schwestern“ der NS-Volkswohlfahrt weichen mussten und am Ende trotz massiver Drohungen ihre Kinder dort abmeldeten.

Dr. Marie Clauss mit Arztkoffer
Die Heidelberger Ärztin Marie Clauss tarnte Besuche bei NS-Verfolgten als ärztliche Hausbesuche.

Am 27.01. erinnerte der baden-württembergische Landtag in einer Gedenkstunde an die Opfer des Nationalsozialismus und die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau vor 78 Jahren. „Wir gedenken zu diesem Anlass dieses Jahr insbesondere der Menschen, die gegen die menschenverachtende Ideologie des Nationalsozialismus Widerstand geleistet haben“, schreibt Landtagspräsidentin Muhterem Aras (Grüne). Den Fachvortrag unter dem Titel „Dagegen sein, dagegen handeln. Vom Widerstand gegen den Nationalsozialismus und von Wider­ständigkeit im Alltag“ hält Angela Borgstedt.
„In einem Unterdrückungsstaat, der alle Lebensbereiche seiner Kontrolle unterwerfen wollte, begann Widerstand bereits im Kleinen. Menschen, die den Hitler-Gruß verweigerten, sich dem Zwang zur Mitgliedschaft in den Massenorganisationen widersetzten, oder Nachbarn halfen, die der Mob für vogelfrei erklärt hatte, begaben sich selbst in größte Gefahr“, schreibt Landtagspräsidentin Aras und ergänzt: „Schon zarte Zeichen von Menschlichkeit konnten zu Ächtung und Verfolgung führen.“

„Menschen können auch über sich hinauswachsen“

„Auch Hilfe und Solidarität für Verfolgte waren Akte der Widerständigkeit im Alltag“, sagt Nicola Wenge. Diese reichten „von kleinen Gesten der Freundlichkeit bis hin zum Rettungswiderstand durch Versteck und Fluchthilfe“, so die Wissenschaftliche Leiterin am Ulmer Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg.
Schließlich habe widerständiges Verhalten im Kriegsalltag auch Sabotage an der „Heimatfront“ oder Desertion bedeutet. „Die Beispiele des kleinen Widerstands, der stillen Opposition oder der humanitären Hilfe für Verfolgte zeigen: Menschen sind vielfältig und widersprüchlich, sie haben oftmals Angst und sind bereit, sich anzupassen, können aber auch über sich hinauswachsen – aus politischer oder religiöser Überzeugung, aus Entsetzen und Scham über die Verbrechen, die von Staats wegen begangen wurden, oder aus Anstand und Mitleid mit den Opfern“, betont Wenge.

Der grenzüberschreitende Widerstand im Südwesten zeigte sich auch beim Flugschriftenschmuggel oder bei Schleusertätigkeiten wie etwa der Fluchthilfe in Richtung Schweiz. „Widerständigkeit im Alltag konnte Mitmenschlichkeit, die Hilfe für Verfolgte bedeuten. Das konnte tatsächlich heißen, einen Verfolgten, eine Verfolgte aufzunehmen, wie es die Pfarrer und Pfarrersfrauen der württembergischen Pfarrhauskette taten“, sagt Angela Borgstedt. Oder dass man einem Zwangsarbeiter ein Stück Brot zusteckte. „Nichts, was das Regime in seinem Bestand gefährdete, aber im Entdeckungsfall erhebliche Konsequenzen haben konnte“, betont Borgstedt.

Letztlich aber war der Widerstand auch im Südwesten „die Sache weniger Einzelner und in der Bevölkerung weitgehend isolierter Gruppen“, sagt Wenge. Für die Bevölkerungsmehrheit sei er weder akzeptabel noch notwendig gewesen. „Wer Widerstand leistete, entzog sich aus der Perspektive der NS-‚Volksgemeinschaft‘ vielmehr dem ‚Gemeinschaftswillen‘ und machte sich bereits dadurch zu ihrem Feind“, betont Wenge.
Außerdem brachte laut Borgstedt der vom Staat aufgebaute Verfolgungsapparat viele politische Gegner in Haft, ins Exil oder ermordete sie.

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