Themen des Artikels
Um Themen abonnieren und Artikel speichern zu können, benötigen Sie ein Staatsanzeiger-Abonnement.Meine Account-Präferenzen
Geisteswissenschaften feiern den 300. Geburtstag Immanuel Kants
Karlsruhe/Emmendingen. Was wäre das 18. Jahrhundert ohne seine Streitkultur! Man denke nur an die Polemik um die „Physiognomischen Fragmente“ von Johann Caspar Lavater. Aus dem Gesicht eines Menschen, so der Theologe, ließe sich dessen Charakter herauslesen. Der Physiker Georg Christoph Lichtenberg entlarvte diese Pseudowissenschaft mit dem berühmten „Fragment von Schwänzen“, welches satirisch darlegte, dass auch der Perückenzopf die innere Gesinnung verrate.
Eine nicht minder gepfefferte Fehde entbrannte indes zwischen Immanuel Kant und einem hohen badischen Beamten. Den Königsberger Philosophen, der am 22. April vor 300 Jahren geboren wurde, kennt jeder. Sein publizistischer Widersacher Johann Georg Schlosser indes verstaubt in den Bibliotheken. Dabei gehörte der aus Frankfurt am Main stammende Jurist und Universalgelehrte gleichfalls zum intellektuellen Jetset der Aufklärung. Nicht nur, weil er die Schwester von Johann Wolfgang Goethe geheiratet hatte, sondern vor allem wegen seiner historischen, pädagogischen und philosophischen Studien. Auch seine Übersetzungen aus dem Altgriechischen erhielten viel Lob aus dem aufstrebenden Bürgertum.
Erst war Schlosser Geheimsekretär, dann Hof- und Regierungsrat
Trotz der hessischen Wurzeln ist Schlossers Biografie eng mit dem Südwesten verknüpft. 1766 macht der spätere Herzog Friedrich Eugen von Württemberg den damals 27-Jährigen zu seinem Geheimsekretär.
Einige Jahre darauf tritt Schlosser in markgräflich-badische Dienste. Zunächst als Hof- und Regierungsrat in Karlsruhe, später als Oberamtmann in Emmendingen. Hier gewährt er dem mittellosen Jakob Michael Reinhold Lenz Unterschlupf.
In Weimar war der psychisch labile Sturm-und-Drang-Dramatiker des Hofes verwiesen worden. Schließlich wird Schlosser zum Geheimrat ernannt, kehrt in die Fächerstadt zurück und bekleidet die Funktion eines Hofgerichtsdirektors.
Überzeugt von den Idealen der Aufklärung, treibt der Jurist im Laufe seiner Verwaltungskarriere diverse Reformprojekte in Bildung, Bergbau und Landwirtschaft an. Doch wie alle Erneuerer gerät auch Schlosser mit Verfechtern der alten Ordnung aneinander. Die protestantische Geistlichkeit ruft gar dazu auf, Schlossers „Katechismus der christlichen Religion für das Landvolk“ zu verbrennen. Das Büchlein versucht, den Gottesglauben mit der neuen Vernunftlehre zu versöhnen. Auch mit Landesherr Karl Friedrich von Baden soll es in staats- und wirtschaftspolitischen Fragen Differenzen gegeben haben, weshalb Schlosser schließlich seinen Abschied nimmt.
Was aber hat in den 1790er Jahren die Kontroverse zwischen dem Wahlbadener und dem ostpreußischen Geistestitan ausgelöst? Zwar standen beide auf der Seite der Aufklärung, vertraten jedoch unterschiedliche Ansichten über die Natur des Verstandes. Schlosser bezichtigt den Vater des Kategorischen Imperativs, die Vernunft zu „entmannen“. Der einseitige Rationalismus vernachlässige Intuition und Empfindung, so Schlosser.
Streit gab es auch um die Haltung zur Französischen Revolution
Zugleich dürfte Schlosser Kants allzu enthusiastische Haltung zur Französischen Revolution missfallen haben. Ein „System, das beynahe alle Wirklichkeit, das Gott und Unsterblichkeit wegkritisirt, und die Tugend so metaphysisch sublimirt, dass ihre Gestalt kaum mehr zu ahnden ist“, öffne, so Schlosser, einem „regellosen Libertinismus“ die Türen.
Das wollte Kant nicht auf sich sitzen lassen. In der Schrift „Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie“ wehrt er sich mit ungewohnter Ironie. Polemisch degradiert er seinen Kontrahenten zum „platonisirenden Gefühlsphilosophen“ sowie zum „Mystagogen“, also zum kultischen Priester, welcher die Wissenschaft mit der Religion und der Poesie verwechsle.
Tatsächlich gehörte Schlosser den Freimaurern an. Nach dem Vorbild der geheimbündlerischen Aufnahmepraktiken definierte er das menschliche Erkenntnisstreben als stufenweise ablaufendenden Initiationsritus.
Obschon Kant sich wortmächtig gegen den Geheimrat aus Karlsruhe verteidigte, blieb ein Teil der Vorwürfe haften. Das Image des Lebensfremden wurde der kühle Königsberger nie mehr los. Schlosser hatte das vorweggenommen, was der Schriftsteller Elias Canetti im 20. Jahrhundert auf den Punkt brachte, indem er Kant als „Kopf ohne Welt“ bezeichnete.