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Nicht Sigmund Freud, sondern Georg Groddeck ist der Begründer der Psychosomatik
Baden-Baden. Bei Männern mit Blinddarmentzündung wusste Georg Groddeck sofort Bescheid: Das „haben alle, die gern kastriert werden, Weib werden wollen.“ Denn wer mit dem Mannsein hadere, so der Arzt, mache den Appendix zum Stellvertreter seiner ungeliebten Geschlechtsorgane. Psychologen würden angesichts solcher Behauptungen die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, trotzdem gilt Groddeck als Visionär seiner Zeit.
Sein Ansatz, leibliche Beschwerden im Kontext psychischer oder sexueller Empfindungen zu betrachten, ebnete der modernen Psychosomatik den Weg. Doch wer war der Mann, der in Baden-Baden eine Kurklinik betrieb?
Als Sohn eines Badearztes kommt Groddeck 1866 in Bad Kösen/Saale zur Welt. Bereits früh rebelliert er gegen überlieferte Gewissheiten seiner Disziplin. So führt seine Dissertation den Nachweis, dass Hydroxylamin, das war damals ein Standardmittel bei Schuppenflechte, kaum wirkt. Frisch approbiert, arbeitet Groddeck zunächst als Assistent an der Berliner Charité.
Medizinisches Konzept mit Diät, sauberer Luft, Heilwasser und Ruhe
Nach einem Intermezzo als Sanitätsoffizier eröffnet er 1900 in Baden-Baden das Sanatorium Marienhöhe. Sein Konzept beruht anfangs auf klassischer Rehabilitation: Diät, saubere Luft, Heilwasser und Ruhe. Doch der erprobte Kritiker der Schulmedizin horcht auf, als er liest, was aus Wien kommt: die Psychoanalyse Sigmund Freuds. In dessen Entstehungstheorie seelischer Konflikte erkennt der Kurarzt den Schlüssel zu vielen organischen Leiden.
Groddeck macht es sich zum Prinzip, Behandlungen auf die individuelle Situation des Patienten abzustimmen. Fortan gehören auch auf der Baden-Badener Marienhöhe Therapiegespräche zum Behandlungsplan.
Ob Kreislaufschwäche, Gicht oder Blähungen – Malaisen aller Art und Schwere bringt Groddeck mit jenem unbewussten Gemisch aus Begierden und Ängsten zusammen, welches er neutral als „Es“ bezeichnet. Tatsächlich hat der Badearzt aus der kleinen Weltstadt den Begriff in die Seelenkunde eingeführt. Der Kollege von der Donau übernimmt den Terminus erst kurz darauf.
Im Unterschied zu Freud betrachtet Groddeck Seele und Körper nicht als getrennte Bereiche. Sein psychophysischer Monismus, wie der Fachausdruck lautet, erkennt in beiden eine fest verwachsene Einheit. Während Psychoanalyse allein auf die Heilung durch Sprache setzt, wendet Groddecks Psychosomatik parallel zu den „Redekuren“ weiter physikalische Maßnahmen an.
Kurgäste fürchten besonders die Massagen gegen chronische Verstopfung. Dabei, so erinnert sich ein Zeitgenosse, „springt der Arzt in ganzer Person auf den Leib des Patienten, so daß seine beiden Knie tief in die Magengrube hineindrücken.“ Hinter dem brachialen Tun steht folgende Überlegung: Der leichte Schmerz, den der Behandler herbeiführt, löse eine Abwehrbewegung des Kranken gegen seine Krankheit aus.
Ein Prinzip, das mittlerweile ‚Stärkung der Selbstheilungskraft‘ heißt. Trotz dieser Verdienste ist die Vita des unorthodoxen Methodikers nicht ohne dunkle Stellen: In den letzten Lebensjahren soll er mit faschistischer Eugenik sympathisiert haben. Groddecks spezifische Verfahren spielen in der Medizin kaum noch eine Rolle. Dagegen hat sich die Orientierung an der Persönlichkeit der Kranken als Standard in der Gesundheitswissenschaft durchgesetzt.
Lockerer Stil, der sexuelle Themen ungewohnt offen behandelt
Dass Groddeck zu Lebzeiten den Status eines Modearztes genoss, resultiert nicht zuletzt aus seinen Publikationen, die in mehrere Sprachen übersetzt wurden. Aufgrund ihres lockeren Stils, der sexuelle Themen ungewohnt offen behandelt, erreichten die Bücher eine breite Leserschaft. Groddecks Hauptwerk, das „Buch vom Es“ (1923) klärt in Form eines Briefromans über das geheime Netzwerk der menschlichen Libido auf. Nicht zufällig trägt das Alter Ego des Autors den Nachnamen „Troll“ – wie das rumpelige Fabelwesen der nordischen Mythologie.
Auf einem Fachkongress stellte Groddeck sich 1925 als „wilder Analytiker“ vor, um die wachsende Unabhängigkeit von Freud zu demonstrieren. „Wo Es war, soll Ich werden“: Dieses viel zitierte Motto aus der Wiener Berggasse hätte Groddeck niemals unterschrieben. Während sich der Österreicher in die Tradition der Aufklärung stellte und glaubte, triebhafte Instanzen durch analytisch vermittelte Rationalität beherrschbar zu machen, hielt der Baden-Badener die Kräfte aus dem Souterrain der Seele für kaum kontrollierbar.
„In Wahrheit“, schreibt er, „sind wir Werkzeuge des Es, das mit uns macht, was es will…“
Verwandelte Liebe
Literatur und Sanatorium gehören seit Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“ zusammen. Auch Georg Groddeck hat in dem Tuberkulose-Epos, das vor hundert Jahren erschien, sein Echo hinterlassen. Stand der Psychosomatiker doch Pate für die Figur des Doktor Krokowski, der in der Davoser Heilanstalt Vorträge über „Seelenzergliederung“ hält. Alle Krankheit, so der Zauberberg-Arzt, sei „verwandelte Liebe“. Besser kann man Groddeck nicht zusammenfassen.