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Betroffene kämpfen weiter für Entschädigung
Stuttgart. In Baden-Württemberg wurde 1973 der Radikalenerlass als „Schiess-Erlass“ bezeichnet, benannt nach dem damaligen CDU-Innenminister Karl Schiess. Der setzte den unter Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) eingeführten Erlass in Baden-Württemberg besonders hart um. Dieser betraf vor allem angehende und bereits tätige Lehrer im Staatsdienst, die damals Mitglied bei der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) waren.
„Es ging nie um Inhalte, sondern nur um Mitgliedschaften“, sagt etwa Gisela Kehrer-Bleicher aus Tübingen. Sie war damals DKP-Mitglied und trat bei verschiedenen Veranstaltungen als Referentin auf. Nach ihrem Studium in Deutsch und Englisch absolvierte sie ihr Referendariat in Reutlingen und bewarb sich dann beim Oberschulamt für eine Stelle.
„Ich hatte erst lange Zeit gar nichts gehört auf meine Bewerbung“, sagt die heute 73-Jährige. Kurz vor Schuljahresbeginn erfuhr sie, „dass es Zweifel an meiner Verfassungstreue gebe“, sagt Kehrer-Bleicher. Daraufhin bewarb sie sich in Hessen als Lehrerin, wo sie aus dem gleichen Grund abgelehnt wurde. Es folgte ein Jahr Arbeitslosigkeit, ehe sie eine Stelle beim Stadtjugendring Stuttgart als Jugend-Bildungsreferentin bekam.
Lothar Letsche betreibt die Internetseite über Berufsverbote
Auch Lothar Letsche, der seit 2001 die Website www.berufsverbote.de betreibt, durfte seine Lehramtsausbildung wegen seiner DKP-Mitgliedschaft nicht fertig machen. „Ich habe mich dann in Dortmund beworben und wurde Verlagsredakteur, schließlich gab es damals ja noch kein Internet, weshalb der Verlag nichts von meiner Mitgliedschaft wusste“, sagt der heute 77-Jährige und schmunzelt. Trotz des Glückes, das er im Gegensatz zu anderen hatte, die heute in Altersarmut leben, sei die „damalige Zeit sehr angespannt gewesen, auch wenn ich heute darüber lachen kann“, betont Letsche.
Sabina Fischer-Hampel wurde die Zulassung zum Referendariat verweigert, nachdem sie von 1970 bis 1976 an der Universität Tübingen studiert hatte. „Mir wurden sehr viele sogenannte Erkenntnisse des Verfassungsschutzes präsentiert, unter anderem eine Reise in die DDR, Kandidatur für den MSB Spartakus und die DKP, Leserbriefe, Diskussionsleitung und so weiter“, sagt Fischer-Hampel.
Zunächst konnte sie als Lehrerin in Spätaussiedler-Kursen arbeiten, danach machte sie eine Umschulung zur fremdsprachlichen Wirtschaftskorrespondentin in der französischen Sprache. 1990 erfuhr sie von einem Weltkongress an der Universität Stuttgart, die kurzfristig eine Fremdsprachensekretärin suchten. „Ich bewarb mich – wurde aber wieder vom Verfassungsschutz überprüft.“ Nach dem Kongress konnte sie zu einer Stelle bei einer an der Uni ansässigen Forschungsgesellschaft wechseln, wo sie als Übersetzerin, Lektorin, Korrektorin und Assistentin arbeitete bis zu ihrer Rente.
Die Berufsverbote wurden 1995 vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als Unrecht verurteilt. 2021 haben Persönlichkeiten aus Politik, Gewerkschaften, Wissenschaft und Kultur einen Aufruf unterzeichnet, die Folgen der Berufsverbote aufzuarbeiten und alle Betroffenen zu entschädigen.
In Baden-Württemberg gab es durch den Erlass 222 Nichteinstellungen und 66 Entlassungen, schreibt Renate Winter-Hoss von der Stuttgarter Gemeinderatsfraktion „Die Fraktion“. Sie fordert zusammen mit der SPD die Stadt auf, ähnlich wie andere Kommunen den Forderungen der Betroffenen nachzukommen und einen Entschädigungsfonds einzurichten, um bei Fällen von Altersarmut und Rentenkürzungen die Verluste auszugleichen. Die Gemeinderäte von Mannheim, Heidelberg, Konstanz und Tübingen hätten sich den Forderungen angeschlossen.
Im vergangenen Jahr hatte Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne), der selbst von dem Erlass betroffen war, zwar in einem offenen Brief Fehler des Staates eingeräumt, eine Rehabilitierung allerdings schließt er kategorisch aus, ähnlich wie die meisten Parteien im Landtag.
Nur die SPD stellt sich bisher hinter die Forderungen der Landesinitiative der seit 1972/1973 vom Berufsverbot Betroffenen. Deren Vorsitzende, Christina Lipps, aber will weiter kämpfen. „Herr Kretschmann, wir sind gleich alt und geben deshalb nicht auf“, betont Lipps.
Schwere Belastung einerseits und Solidarität andererseits
„Die jahrelange Bespitzelung, Anhörungen, Gerichtsverfahren, immer wieder Arbeitslosigkeit und notwendige berufliche Neuorientierung hat mich und meine Familie immer wieder schwer belastet, abgesehen von den finanziellen Verlusten“, sagt Gisela Kehrer-Bleicher. „Aber ich habe auch viel Solidarität erfahren, was mir sehr geholfen und dazu beigetragen hat, mich nicht unterkriegen zu lassen“. Nicht zuletzt deshalb sei sie auch heute weiter aktiv für die Rehabilitierung und Entschädigung der vom Berufsverbot Betroffenen, betont Kehrer-Bleicher.