FDP im Landtag fordert: „Weg mit der Inzidenz“
STUTTGART. Schon ab Oktober werden für vulnerable Gruppen in der Bevölkerung Auffrischungsimpfungen, also dritte Dosen gegen Corona angeboten. Im Landtag kündigte Sozialminister Manfred Lucha (Grüne) außerdem an, dass künftig verschiedene Faktoren bei der Bewertung der Pandemielage berücksichtigt werden.
„Ganz entscheidend ist, die Übertragungsdynamik einzubeziehen“, so Lucha, „um zu wissen, mit welcher Geschwindigkeit sich das Krankheitsgeschehen entwickelt.“ Wenn der R-Wert nicht über 1,5 hinausgehe, sei auch keine Überlastungssituation in der Kliniken zu erwarten. Gegenwärtig sei Baden-Württemberg das Flächenland mit der niedrigsten Inzidenz: „Das ist eine Momentaufnahme, aber auch ein Beleg für die Wirkung der Maßnahmen und die Disziplin in der Bevölkerung.“
Die FDP-Landtagsfraktion hatte die Aktuelle Debatte mit dem Titel „Corona-Management BW 2.0 – statt der reinen Inzidenz-Fixierung“ beantragt. Ihr Gesundheitspolitiker Jochen Haußmann warb dafür, in die Lagebeurteilung einfließen zu lassen, dass die Situation eine gänzlich andere sei als vor einem Jahr. Die wesentlichen vulnerablen Gruppen – zum Beispiel ältere Personen und solche mit bestimmten Vorerkrankungen – seien geimpft oder könnten sich impfen lassen. Zudem gebe es Testangebote, und FFP-2-Masken seien Alltagsartikel geworden.
„Aussagekraft der Inzidenz schmilzt dahin“
„Die Aussagekraft der Inzidenz, die positive Laborergebnisse ohne Berücksichtigung tatsächlicher Erkrankungen und Schwere der Verläufe ausdrückt, schmilzt dahin“, sagte Haußmann und forderte: „Weg mit der Inzidenz!“ Es müssten endlich der Hospitalisierungsindex und die Impfquote Maßstab werden, und es brauche eine Strategie, „wie mit dem Corona-Virus gelebt werden kann“. Ehrenamt und Vereine, Wirtschaft und Gesellschaft brauchten klare Perspektiven. Nach den aktuellen Zahlen müssen gegenwärtig 49 Menschen intensivmedizinisch betreut und 29 beatmet werden.
Auch Petra Krebs, die Sprecherin für Gesundheit, Soziales und Pflege der Grünen-Fraktion, sprach sich für eine neue Bewertungsgrundlage aus, fordert aber eine „nachhaltige Perspektive“, denn: „Das Szenario der vierten Welle ist real.“ Das Land befinde sich zwar in der erfreulichen Situation, dass die vulnerablen Bevölkerungsgruppen weitestgehend geimpft seien, was zu einer Entkoppelung der Fallzahlen von den Krankenhauseinweisungen führe. Gerade deshalb könne die Hospitalisierungsquote allein aber nicht als Frühwarnsystem benutzt werden, „da die Anzahl der Klinikeinweisungen dem aktuellen Infektionsgeschehen hinterherhinkt“.
Krebs: Hospitalisierungsquote keine Aussagekraft über Anzahl moderater Fälle
Im Schnitt lägen zehn Tage zwischen Ansteckung und Aufnahme im Krankenhaus. Außerdem habe die Hospitalisierungsquote keine Aussagekraft über die Anzahl moderater Krankheitsverläufe, die die Gesellschaft ebenfalls stark belasten können, da es zum Beispiel zu Arbeits- oder Schulausfällen kommt. Also müsse „alles dafür getan werden, unser Ziel bis zum Ende des Sommers zu erreichen und 80 Prozent der Impfberechtigten auch zu impfen“. Dabei bleibe es aber Bürgerinnen und Bürger überlassen, ob sie sich impfen lassen wollen oder nicht.
„Bei allen Problemen in der Interpretation von Inzidenzen, wie beispielsweise der Dunkelziffer von positiven Testungen, erlauben sie uns doch die Entwicklung einer Infektionslage innerhalt einer Population aufzuzeigen“, erläuterte Michael Preusch, der neue CDU-Abgeordnete in seiner Jungfernrede. Die Herausforderung für ein Gesundheitssystem sei jedoch nicht primär die Zahl der positiv getesteten, sondern die Anzahlen der zu erwartenden Erkrankten. Preusch empfahl aus den Daten der Neuinfektionen und der Altersverteilung zur Basis zu machen, um mittels mathematischer Modelle eine „relativ gute Vorhersage“ über die zu erwartenden Klinikaufenthalte zu machen. Am Uniklinikum in Heidelberg fuße die Bettenbereitstellung bereits „nahezu ausschließlich auf einem solchen Modell, und das sehr erfolgreich“.
SPD: Mehr Daten als nur die Inzidenz erforderlich
Für die SPD-Fraktion nannte Florian Wahl die Sieben-Tage-Inzidenz „einmal sehr entscheidend“. Inzwischen sei aber richtig, mehr Informationen einzuholen und zu Grunde zu legen, etwa von den Krankenhäusern über die Patienten. „Wir brauchen mehr Daten, nicht nur zu den Sterbefällen, sondern auch zu den Altersgruppen, zum Impfschutz, zu Vorerkrankungen, den Verläufen und darüber, ob Menschen wirklich geheilt entlassen wurden der ob sie an Langzeitfolgen leiden“, so Wahl. Aktuell freuten sich alle über Freiheiten, „dass wir fast keine Einschränkungen mehr haben in unserem alltäglichen Leben, aber wir müssen wirklich aufpassen“, verlangte der Böblinger Abgeordnete und bekannte, dass ihm „ganz anders“ werde, wenn er di Bilder aus Großbritannien sehe.
Carola Wolle (AfD) kritisierte, wie durch die täglichen Inzidenz-Meldungen die Angst „medial geschürt“ werde, weil steigende Zahlen die Bevölkerung ängstigten. Es sei falsch, sich auf das „Orakel der Sieben-Tage-Inzidenz“ zu verlassen. Die Pandemiebekämpfung habe jenseits der wissenschaftlichen Debatte stattgefunden. Wegen der „Ignoranz“ der grün-schwarzen Landesregierung sei das Land nicht vorbereitet gewesen. Sozialminister Lucha erwiderte mit dem Vorwurf an Wolle, nur auf Wissenschaftler zu hören, die ins eigene Bild passten.
Quelle/Autor: Brigitte Johanna Henkel-Waidhofer