Der Atomausstieg ist ein Jahr her, doch der Streit geht weiter
Stuttgart. Wohl selten wurde im Landtag von Baden-Württemberg ein Debattentitel so häufig genannt wie am Mittwochmorgen. Da wurde die von den Grünen beantragte „Ein Jahr Atomausstieg: Ende der Geisterdebatten und volle Kraft für Erneuerbare“ aufgerufen. Joachim Steyer (AfD) etwa gestand, dass er schon bei der Lektüre des Debattentitels herzhaft lachen musste. „Aber dass auch noch ausgerechnet die Grünen diese Debatte selbst beantragt haben, da bin ich schier vom Glauben abgefallen.“ Die Grünen seien Geisterfahrer.
„Das Abschalten war falsch“, konstatiert die FDP
Weniger polemisch, aber doch irritiert reagierte man bei CDU und FDP. Für den Liberalen Frank Bonath klang der Debattentitel danach, als müsse der Atomausstieg auf alle Zeiten ganz sicher beendet sein, bevor sich erneuerbare Energien durchsetzen können. Darin stecke „die ganze grüne ideologische Gesinnung, mit aller politischer Macht eine ungewollte Technologie kaputtzumachen, um dann der gewünschten Technologie Raum geben zu können“.
Die FDP habe nicht die Absicht, die abgeschalteten Meiler wieder in Betrieb zu nehmen. Doch die Bilanz nach einem Jahr Atomausstieg falle schlecht aus – nicht nur aus Sicht der FDP, sondern auch aus Sicht eines Großteils der Bevölkerung. „Das Abschalten war falsch“, sagte Bonath und verwies darauf, dass Staaten wie USA, Schweden und Frankreich gerade dabei seien, stärker auf die Atomkraft zu setzen. „Sie können doch nicht alle auf Geisterfahrt sein.“
Raimund Haser (CDU) mahnte, die Realitäten zur Kenntnis zu nehmen. Und die bestünden nun einmal darin, dass die Energiewende noch längst nicht umgesetzt sei. Und dass der CO2-Ausstoß in Baden-Württemberg 2022 massiv gestiegen sei. Was wiederum damit zu tun hat, dass man nach dem Atomausstieg auf Kohle umgestiegen sei. „Keine Kilowatt-Stunde aus Norwegen hat jemals die Steckdose in Göppingen erreicht. Das ist vollkommen ausgeschlossen, weil diese Leitungen nicht gelegt sind“, sagte er. Es sei einzig und allein der wirtschaftlichen Stärke Deutschlands zu verdanken, dass sich der chinesische Führer mit dem deutschen Kanzler treffe. Werde diese aufs Spiel gesetzt, dann bekomme Kanzler Scholz bei Xi Jinping noch nicht mal mehr einen Kaffee. „Wir müssen aufhören, Energiepolitik ständig als politischen Zankapfel zu betrachten: meine Energie, deine Energie, meine Bewegungsform, deine Bewegungsform“, sagte Haser. Auch der CDU-Abgeordnete betonte, dass es unter den Parteien links von der AfD niemanden gebe, Atomkraftwerke zu planen oder zu errichten.
Umweltministerin Thekla Walker (Grüne) präsentierte andere Zahlen. Ihr zufolge ist der CO2-Ausstoß 2023 um 13 Prozent gesunken. „Das ist der stärkste Rückgang in der Energiewirtschaft durch einen Rückgang der Kohleverstromung im vergangenen Jahr.“ Man sei auf einem sehr guten Wege. Deutschland sei konkurrenzfähig, was die Energiepreise anlangt.
„Dieses Negative, diese Unkenrufe die ganze Zeit schaden unserem Wirtschaftsstandort“, so Walker. Deswegen appelliere sie an alle, die die Energiewende schaffen wollten: „Wir müssen konstruktiver werden.“ Walker räumte ein, dass auch sie mit 16 neuen Windanlagen im vergangenen Jahr nicht zufrieden sei. Allerdings gebe es 139 Anlagen, die bereits genehmigt seien. Außerdem liege das Land beim Thema Solarenergie bundesweit mit an der Spitze.
Mit der Renaissance der Atomkraft sei es im Übrigen in Europa nicht weit her: 128 Reaktorblöcke befänden sich im Rückbau. Zwei Anlagen entstünden gerade, eine in Frankreich, eine weitere in der Slowakei. Dazu kämen noch einmal zwei in Großbritannien. Und: „Man muss leider sagen: All die Projekte, die sich im Moment im Bau befinden, sind ein wirtschaftliches Totaldesaster.“
„Nai hämmer gsait“: SPD erinnert an Kampf gegen Wyhl
Unterstützung bekam Walker von der SPD. Gabriele Rolland erinnerte daran, dass die Sozialdemokraten in den 1950er- und 1960er-Jahren für die Nutzung der Atomkraft eingesetzt hatte. Erst in den 1970er-Jahren habe unter Erhard Eppler ein Sinneswandel eingesetzt. Wer sich heute für Atomenergie einsetze, von dem erwarte sie eine Antwort darauf, wo denn die Abfälle gelagert werden. „Es gibt keine Lösung.“
Die Freiburger Abgeordnete erinnerte auch an die Anfänge der Antiatomkraftbewegung, den Kampf gegen das geplante Atomkraftwerk Wyhl. „Nai hämmer gsait“ sei die Parole gewesen. Doch dabei sei es nicht geblieben. Neue Ideen seien entstanden, wie man die Energie gewinnen kann, die gebraucht wird. Das Licht brenne noch immer am Oberrhein.
Allerdings sei das Pflichtenheft der Landesregierung noch längst nicht abgearbeitet. Die Prüfung der Wärmepläne, die die Kommunen bis Ende 2023 einreichen mussten, dürfe nicht bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag dauern. Da sei „ein bisschen mehr Power nötig“, so Rolland.
Gute Nachrichten in Sachen Energiewende verkündete Niklas Nüssle (Grüne). Die Börsenstrompreise in Deutschland hätten sich seit dem Atomausstieg fast halbiert. Es stimme schon: Strom sei in Deutschland nicht billig. Dies liege aber vor allem daran, dass Energiewende und Netzausbau jahrelang ausgebremst worden seien. Anschließend machte sich der europapolitische Sprecher der Grünen daran, mit Mythen aufzuräumen. Vergangenes Jahr seien zwei Prozent des Stroms importiert worden, das meiste davon klimaneutraler Windstrom aus Skandinavien. Nur ein Viertel davon sei französischer Atomstrom gewesen. Die Atomkraft sei ein totes Pferd, das nur noch faktenbefreit geritten werden könne.