60 Jahre Landesverfassung: Direkte Demokratie steht im Focus der Redner
Stuttgart. Mit einem Festakt im Stuttgarter Neuen Schloss haben Landtag und Landesregierung von Baden-Württemberg an diesem Mittwoch im Beisein zahlreicher Gäste das 60-jährige Bestehen der Landesverfassung gefeiert. Die Verfassung des Landes war an 19. November 1953 in Kraft getreten.
Landtagspräsident Guido Wolf (CDU) nannte die Verfassung den „Kronschatz der Demokratie“, der im Lauf der Jahrzehnte mit nur wenigen Ergänzungen klug vermehrt worden sei. Als beispielhaft nannte er die Verankerung der ökologischen Nachhaltigkeit „als Abbild der vielleicht wichtigsten politischen Horizonterweiterung in den vergangenen Jahrzehnten“.
Kretschmann: Land in mehrfacher Hinsicht „in guter Verfassung“
Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) sprach von Baden-Württemberg als einem Land, das in mehrfacher Hinsicht „in guter Verfassung“ sei. Festredner Ferdinand Kirchhof, Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, hatte sich Risiken und Chancen direkter Demokratie als Thema vorgenommen und gab den anwesenden Landespolitikern gleich einen Masterplan mit auf den Weg, wie sich verfassungskonform eine wirksamere Bürgerbeteiligung an politischen Entscheidungen umsetzen lässt.
Landtagspräsident Wolf erinnerte eingangs an den einenden Charakter der Landesverfassung für ein junges Bundesland, dessen Teile erst zueinanderfinden mussten. „Die Arbeit an der Landesverfassung war auch ein Stück mentale Selbstfindung und für das Bundesland ein Geburtstagsgeschenk mit Nutzwert“, sagte Wolf, „und das freut das baden-württembergische Wesen trotz unserer unterschiedlichen Stammeszugehörigkeit.“ Bemerkenswert – und „des Merkens wert“ sei zudem, so Wolf, dass für die 115 Männer und sechs Frauen der verfassungsgebenden Landesversammlung der Gottesbezug in der Verfassung unstrittig gewesen se
Wolf: Landesverfassung seit 60 Jahren nachhaltig
„Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen,“ sagte Wolf weiter. Er rief den Gästen der Festveranstaltung zudem in Erinnerung, dass die Landesverfassung schon 1952 das skizziert habe, was heute als Bürgergesellschaft bezeichnet werde. „Die Landesverfassung ist seit 60 Jahren das, worüber wir heute so gerne reden: Sie ist nachhaltig, und sie soll es auch in der Zukunft bleiben.“
Auch Ministerpräsident Winfried Kretschmann bescheinigte den Müttern und Vätern der Landesverfassung, mit deren Abfassung nicht nur baden-württembergischen Eigensinn, sondern auch großen Weitblick bewiesen zu haben. „Die Landesverfassung zeugt von den Erfahrungen einer Generation mit Krieg und Nazi-Diktatur.“ In vielen Teilen gehe die Landesverfassung viel weiter als das Grundgesetz. An das Land Baden-Württemberg habe es bei seiner Gründung große Erwartungen gegeben – „und Baden-Württemberg hat sie im Großen und Ganzen erfüllt.“
Das Land vereine wirtschaftlichen Stärke, Gemeinsinn und soziales Engagement seiner Bürger und starke Kommunen. Die Verpflichtung, für gerechte Bildungschancen zu sorgen, und den Erziehungsauftrag für die Jugend griff Kretschmann als wesentliche durch die Verfassung definierte Aufgabe der Politik heraus. „Das zieht sich wie ein roter Faden durch alle Artikel.“ Kretschmann sprach sich zudem ebenso wie zuvor Wolf dafür aus, neben der bereits eingeführten Landesverfassungsbeschwerde über neue Formate der Bürgerbeteiligung sowie der direkten Demokratie nachzudenken.
Neuordnung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen angemahnt
Der Ministerpräsident nutzte die Gelegenheit aber auch, um eine Neuordnung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen und eine faire Lastenteilung anzumahnen. „Die Länder müssen mit den Mitteln ausgestattet sein, um ihre Aufgaben zu erfüllen“, sagte Kretschmann und forderte, die Gemeinschaftsteuern gerechter zwischen Bund und Ländern zu verteilen. „Die heißen nicht nur so, die sind es auch“, so Kretschmann. „Das würde den eigenstaatlichen Charakter unseres Landes stärken.“ Eventuell müsse das über eine neuen Föderalismuskommission geregelt werden.
Festredner Ferdinand Kirchhof betonte in seinem Vortrag über Chancen und Risiken direkter Demokratie, wie laut der Ruf der Bürger nach direkter Beteiligung an politischen Entscheidungen inzwischen geworden sei und forderte die Politik auf, darauf zu reagieren. „Das ist ein Novum: Der Bürger will gehört werden, und er will mit entscheiden.“ Der Verfassungsrichter verwies darauf, dass dem Land und den Kommunen das entsprechende Instrumentarium dafür rechtlich bereits vorhanden sei. „Aber es wird in der Praxis nicht genutzt. Darauf sollten wir uns konzentrieren, wenn wir die Landesverfassung modernisieren wollen.“
Kirchhoff: Politische Auseinandersetzung ist kein Glaubenskrieg
Deutliche Worte sprach Kirchhof allerdings auch in Richtung der so genannten Wut-Bürger und forderte sie zu mehr Fairness und Verantwortung auf. „Volksentscheide lösen keinen Konflikt zwischen Gut und Böse, sondern bringen die Entscheidung für einen von mehreren möglichen Wegen und sind der Versuch, über einen Mehrheitsbeschluss zu einer Akzeptanz zu kommen“, sagte Kirchhof. „Eine politische Auseinandersetzung ist kein Glaubenskrieg.“Als gangbaren Weg zu mehr direkter Demokratie nannte der Jurist eine mögliche „Referendumsdemokratie mit Initiativrecht der Bevölkerung“. „Der Werkzeugkasten ist da, nutzen wir ihn“, forderte Kirchhof.
Stellvertretend für die Jungbürger von Baden-Württemberg waren mit Alena Laier, Kaltrina Gashi und Markus Christoph Müller drei ehemalige Preisträger des Schülerwettbewerbs des Landtags zur Förderung der poltischen Bildung dazu eingeladen, ihre Gedanken zum 60-jährigen Bestehen der Landesverfassung vorzustellen. Dabei ließ es besonders Kaltrina Gashi, deren Familie aus dem Kosovo stammt, nicht an deutlichen Worten fehlen. „Wie kann es sein, dass Gymnasiasten im Bundesland mit der niedrigsten Arbeitslosigkeit und einem kostenlosen Bildungssystem nicht wissen, dass es eine Landesverfassung gibt?“, fragte sie und forderte, mehr in die Bildung zu investieren und gleichzeitig gegen den enormen Leistungsdruck auf die Schüler vorzugehen.
Auch die 19-jährige Alena Laier kritisierte die schlechteren Chancen für Schüler mit Migrationshintergrund an den Schulen und fehlende Förderung. Zudem forderte sie die Politik dazu auf, die Landesverfassung mit ihrer Vorgabe einer christlichen Erziehung so an die heutige Gesellschaft anzupassen, dass sich auch Menschen anderen Glaubens darin wiederfinden könnten. Markus Christoph Müller bemängelte eine wachsende Chancenungleichheit für junge Menschen in Baden-Württemberg. Zudem forderte er die Politik dazu auf, mehr direkte Demokratie zuzulassen.