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Mit viel Optimismus und Debatten über Kettensägen
Stuttgart. Jürgen Morlok hat schon viel erlebt. Vor 55 Jahren trat er in die Partei ein, von 1972 bis 1988 saß er im Landtag, er war Landes- und Fraktionsvorsitzender. Aufs und Abs, sagt er, könnten ihn nicht mehr erschüttern. Und als sich am Dreikönigstag nach und nach das Große Haus der Württembergischen Staatstheater sogar in den oberen Rängen füllt, dort, wo nicht-geladene Gäste Platz finden, sieht er sich in seiner Zuversicht hinsichtlich der Überwindung der Fünf-Prozent-Hürde bei der Bundestagswahl bestätigt. Es gelte die alte Regel: „Oper voll, Urne voll.“
Der Optimismus des 79-Jährigen ist im Vergleich zur Ansage seines Bundesvorsitzenden geradezu zaghaft. Denn der von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) gefeuerte Bundesfinanzminister Christian Lindner drängt mit Macht in das erhoffte künftige Kabinett von Friedrich Merz (CDU). Mag sein, dass die beiden immer wieder beschriebenen guten Freunde nichts auseinanderbringen kann – trotzdem schont Lindner den Wunschpartner nicht. Eher im Gegenteil: Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) tituliert er in seiner Dreikönigsrede als Grüne, jedenfalls am Ende ihrer Amtszeit, um seine These zu stützen, dass die Bundesrepublik die vergangenen zwei Jahrzehnte „von de facto Mitte-Links geprägt“ gewesen seien und von den Grünen.
Der FDP-Chef geht noch einen Schritt weiter: Weil sich die Union dem jeweiligen Partner anpasse, brauche es nicht nur einen Kanzler-, sondern einen „echten Politikwechsel“. Die CDU/CSU sei ein „politisches Chamäleon“, weshalb Schwarz-Rot oder Schwarz-Grün nichts anderes wäre als eine „Ampel light“.
FDP will Wirtschaftspolitik in den Mittelpunkt des Wahlkampfs rücken
In den Mittelpunkt beider Wahlkämpfe will die FDP die Wirtschaftspolitik rücken. Marco Buschmann, vor kurzem noch Bundesjustizminister, inzwischen Generalsekretär, grenzt die eigenen Vorstellungen bei seinem ersten Auftritt in der Stuttgarter Oper ebenfalls scharf ab und erntet wie Lindner viel Applaus. Sozialdemokraten und Grüne, klagt Buschmann, setzten immerzu auf vier „S“: mehr Staat, mehr Schulden, mehr Subventionen, mehr Steuern. Das sei „die ganz alte Leier aus den Sechzigern und Siebzigern, die aber noch nie funktioniert hat“. Dagegen stehe liberale Wirtschaftspolitik, und die sei „die beste Gesellschafts- und Sozialpolitik, die man in der gegenwärtigen Situation machen kann“.
Widersprüchlich ist Buschmann Beschreibung der deutschen Gegenwart. Denn einerseits warnt er von einem „Kollaps“, weil „immer weniger Leute Autos bauen und immer mehr beim Staat arbeiten“. Andererseits empfiehlt er dringend, Mut und „gesunden Optimismus“. Die liberale Demokratie gebe mit dem Grundgesetz alle notwendigen Instrumente in die Hand. „Was mir nicht gefällt“, sagt der frischgebackene Generalsekretär, „ist, dass sich ein Gefühl breit macht, als ginge alles den Bach runter.“
Beide, Buschmann und Lindner, werben dazu für einen Mentalitätswechsel. Das Verhältnis zur Erwerbsarbeit müsse sich „deutlich verändern“, verlangt der Bundesvorsitzende Lindner. Zwar sei die FDP die Partei der individuellen Selbstbestimmung und ihm liege es fern, Mitgliedern unsere Gesellschaft individuell Faulheit und Antriebslosigkeit vorzuwerfen. Gesellschaftlich insgesamt müssten Themen wie Work-Life-Balance oder Vier-Tage-Woche zurückgedrängt werden. Lindner regt eine „Imagekampagne für Arbeit“ an, denn Arbeit könne „auch Sinn stiften“ und er spricht sich für bessere Angebote zur Kinderbetreuung aus – ohne Details, vor allem zur Finanzierung zu nennen.
Liberale wollen sich als Alternative für gemäßigte Wähler von AfD und BSW anbieten
Außerdem wollen sich die Liberalen als Alternative für „gemäßigte Wähler und Wählerinnen“ anbieten, die bisher der AfD oder dem Bündnis Sarah Wagenknecht ihre Stimme gaben. Ohne diese gäbe es im Bundestag „längst eine schwarz-gelbe Mehrheit“, sagt Lindner in der Stuttgarter Oper, und deshalb müsse versucht werden, Menschen zu erreichen, „die gegenwärtig nicht das demokratische Zentrum wählen“. Also verspricht er die Wirtschaftswende, eine „kontrollierte, aber weltoffene Einwanderung“ sowie, mit einem Seitenhieb auf die Grünen, mehr Freiheit statt Bevormundung.
Die Aufholjagd wäre eine historische, würde sie tatsächlich die nötigen Prozente herbeischaffen. In allen aktuellen Umfragen sind Union und FDP aber fast himmelweit entfernt von einer Mehrheit im Parlament – mit jeweils rund 30 Prozent für die CDU beziehungsweise drei bis vier Prozent für die FDP. Wie der amtierende Bundeskanzler Olaf Scholz zieht es Lindner vor, die trübe Realität zu ignorieren: Wahlkämpfe, beharrt er, seien nicht dazu da, Umfragen zu bestätigen, sondern dazu, Umfragen zu verändern.
In Baden-Württemberg ist das Ziel zeitlich weiter entfernt und rechnerisch auch nicht wirklich näher. Die CDU liegt hier aktuell in Umfragen bei rund 33 Prozent, die FDP zwischen vier und sechs Prozent. Dennoch kündigt der Landes- und Fraktionschef an Hans-Ulrich Rülke an, Winfried Kretschmanns Grüne auf die Oppositionsbänke zu schicken. Denn die seien „politisch Irrende“. Deshalb stellte der 63-Jährige eine „bürgerliche Bewegung“ in Aussicht sowie das Ende „linksgrüner Ideologie“. Heute brauche es eine Wirtschaftswende und Reformen, die „mit der Kettensäge und nicht mit der Nagelschere“ angegangen werden. Die historische Aufgabe der FDP sieht der frühere Studienrat darin, „die Herrschaft der Staatsgläubigkeit zu verhindern“. Überhaupt spielte die Kettensäge in Fellbach eine bemerkenswerte Rolle. Mark Hohensee, Landesvorsitzender der Jungen Liberalen, hatte ein Modell des Weltmarktführers aus dem nahen Waiblingen mitgebracht, wurde damit aber nicht in die Halle gelassen.
Die Kettensäge wird aus dem Leitantrag getilgt
Und Generalsekretärin Judith Skudelny erklärte bei ihrem Auftritt, sie sei schon öfter gefragt worden, ob die Kettensäge denn das richtige Symbol sei. Bürokratieabbau sei notwendig, bejahte die Stuttgarter Rechtsanwältin, aber: „Wir werden kein Kettensägenmassaker veranstalten, sondern Schutzanzüge anziehen und die Bedienungsanleitung lesen.“ Überraschend wollte eine Mehrheit der Delegierten dieser Relativierung aber nicht folgen: In einer mehrfach überprüften Abstimmung in den Nachmittagsstunden wurde die anstößige Vokabel Kettensäge aus dem Leitantrag der Landesvorstands getilgt und durch die Formulierung „Bürokratie konsequent reduzieren“ ersetzt.
Das weitreichende Motto beider Veranstaltungen „Alles lässt sich ändern“ will die FDP gar nicht zuletzt vor allem im Klimaschutz anwenden. Viel Beifall gibt es für Rülkes überspitzt vorgetragene Geschichte von den Fledermäusen, die vom NABU im Zuge der Reaktivierung der Hermann-Hesse-Bahn im Landkreis Calw die Nägel lackiert bekamen, um den angemessenen Umgang nachverfolgen zu können. Seine Kritik richtet sich an die Grünen.
Keine Festlegung auf das EU-Ziel 2050 für die Klimaneutralität
Zugleich berichtet er aber von einer Lösung, die „auf Betreiben der Genehmigungsbehörde des Regierungspräsidiums Karlsruhe gefunden“ wurde. Und die sehe so aus: „Im Eisenbahntunnel wird es zwei Röhren geben wird, nämlich eine innere für den Zug und eine äußere für die Fledermaus, Kostenpunkt insgesamt rund 200 Millionen Euro, davon für die Fledermaus wohl 70 Millionen, „und wenn Sie sich jetzt die Frage stellen, woher wisse die Fledermaus, in welche Röhre sie fliegen müsse, heißt die Antwort, dass das niemand weiß“. Sein Schluss: „Willkommen im grün regierten Absurdistan, da kommt erst der Mensch, dann die Eisenbahn und ganz oben die Fledermaus.“
Dass und wie Natur- und Klimaschutz zurückgedrängt wird, belegt auch die ausführliche Antragsberatung der Delegierten zum Landesparteitag. Der muss sogar über das geplante Ende hinaus verlängert werden, weil der Umgang vor allem mit dem Leitantrag – siehe Kettensäge – ausführlich ist. Bisherige ambitionierte Klimaziele werden als „gold-plaiting“ eingestuft, also als Übererfüllung nationaler und internationaler Vorgeben. Jahreszahlen als Vorgaben für die Klimaneutralität werden getilgt – sogar das Jahr 2050, dass die EU vorgibt – in der Erwartung, auch europaweit könnten Fristen noch einmal gestreckt werden.
Aktivisten von Fridays For Future verteilen vor dem Staatstheater Flugblätter
Draußen vor dem Staatstheater am Eckensee stehen einige Aktivisten von Fridays for Future, verteilen Flugblätter, fordern von der FDP auf „den Boden der Tatsachen zurückzukehren“. Denn eine Partei, die Verantwortung für die Freiheit künftiger Generationen übernehmen wolle, müsse für echten Klimaschutz streiten. Mit den vorgezogenen Bundestagswahlen, heißt es weiter, stehe plötzlich alles auf dem Spiel: „Für euch eure Partei, für uns die Zukunft.“
Jürgen Morlok hat in den 1980er-Jahren für die FDP ebenfalls entscheidende Wahlen mitverantwortet, im Landtag und nach Abkehr von der SPD und der Wende hin zur Union unter Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) im Bundestag. Er weiß genau um die Verantwortung, die gerade am 23. Februar auf den Schulter der Liberalen im Südwesten lastet, denn die müssten und würden ein „herausragendes Ergebnis“ bringen, um im Bund die Fünf-Prozent-Hürde nicht zu reißen. Die Demoskopie, nicht die Landtags-, sondern die Bundestagswahl betrachtet, weist aktuell exakt diese fünf Prozent für die FDP aus. Zum Vergleich: 2021 erzielte die Partei 11,5 Prozent.
Programmatische Stabilität über Jahrzehnte belegt dagegen der Blick zurück auf die Slogans und Versprechen in früher Zeit. Auf einem außerordentlichen Bundesparteitag in Freiburg 1983 stellte die FDP „die Verwirklichung eines Höchstmaßes an liberaler Politik zum Wohle Deutschlands“ in Aussicht. Und selbst das Motto von damals ist ohne weiteres recycelbar: „Mut braucht Freiheit“.