Themen des Artikels

Um Themen abonnieren und Artikel speichern zu können, benötigen Sie ein Staatsanzeiger-Abonnement.Meine Account-Präferenzen

Essay

In der Opposition muss man sich nicht verbiegen

In seinem Essay macht Michael Schwarz sich Gedanken über Politiker, politische Markenkerne und die Bereitschaft, auch einmal eine Wahl zu verlieren.

Für Demokraten existiert anders als für Päpste - hier Pius IX. - kein Unfehlbarkeitsdogma. Umso wichtiger ist es, dass sie in ihrem Denken und Handeln klare Linien erkennen lassen, stattt heute hü und morgen hott zu sagen.

dpa/picture alliance/Mary Evans Picture Library)

Der Papst ist unfehlbar und dies schon länger, genau genommen seit 1870: Damals verkündete das Erste Vatikanische Konzil ein entsprechendes Dogma – im Übrigen nicht, ohne zuvor eine Gruppe kritischer Geistlicher in die Wüste geschickt zu haben. Und auch die Herren Kim, Putin und Xi Jinping dürften ihren Kritikern was husten – wenn das mal reicht –, sollten diese auch nur die geringsten Zweifel an der Weisheit ihrer Entscheidungen ventilieren.

Demokraten tun sich da naturgemäß etwas schwerer. Schließlich dürfen sie es sich nicht mit den Kritikern verderben, zumindest wenn diese über Einfluss verfügen. Denn genauso schnell, wie man gewählt wird, ist man auch schon abgewählt.

Lässt es sich damit erklären, dass in jüngster Zeit auffällig viele Demokraten umkippen, wenn es um Ziele geht, die gerade eben noch Teile ihres Markenkerns auszumachen schienen? Am Wochenende jedenfalls stoppte Friedrich Merz das Projekt „Rente mit mehr als 67 Jahren“. Dabei hat seine CDU gerade erst in ihrem Grundsatzprogramm beschlossen, das Renteneintrittsalter an die Lebenserwartung zu koppeln.

Mit seiner Wankelmütigkeit ist der Oppositionsführer nicht allein. Der Kanzler hat gerade angekündigt, das nationale Lieferkettengesetz zum Jahresende auslaufen zu lassen. Damit will Olaf Scholz die Wirtschaftsführer besänftigen. Ob ihm das helfen wird angesichts der sich häufenden Hiobsbotschaften? Eines ist jedenfalls klar: Er handelt gegen sein eigenes Wahlprogramm von 2021. Dort stand: „Es ist ein großer Erfolg der SPD, dass ein nationales Lieferkettengesetz auf den Weg gebracht werden konnte. Wir werden es konsequent weiterentwickeln.“

Ähnlich agiert Winfried Kretschmann auf Landesebene. Das Antidiskriminierungsgesetz dürfte Geschichte sein, obwohl es bereits durchs Kabinett ging. Angeblich schafft es nur zusätzliche Bürokratie; wer von der Polizei oder den Behörden wegen seiner Hautfarbe, Nationalität et cetera diskriminiert fühle, könne sich auch auf das Grundgesetz berufen. Dabei hört man aus Berlin, wo es schon ein Antidiskriminierungsgesetz gibt, keine Klagen. In Wirklichkeit stoppt der Ministerpräsident nur deshalb das Projekt, weil es massive Widerstände gibt und seinen Grünen die Felle wegzuschwimmen drohen.

In einer solchen Situation verkämpft man sich nicht für Projekte, die schon in besseren Zeiten erklärungsbedürftig sind, jedenfalls in jenen konservativen Milieus, in denen Kretschmann auch deshalb beliebt ist, weil er bisweilen ihre Sprache spricht – man erinnere sich nur an jene migrantischen „Männerhorden“, die der Ministerpräsident „in die Pampa“ schicken wollte.

Die Frage ist allerdings, wie sehr man Stimmungen nachgeben kann, ohne die Marke dauerhaft zu beschädigen. Bei Angela Merkel wusste irgendwann keiner mehr, wofür sie – außer vielleicht für Flüchtlinge – eigentlich stand. So landete die CDU 2021 in der Opposition.

Das Gegenteil probiert gerade Sahra Wagenknecht aus. Die Chefin der nach ihr benannten Partei scheint darüber nachzudenken, „besser nicht zu regieren, als falsch zu regieren“, um einen anderen Politiker zu zitieren. In gewisser Weise hat Christian Lindner gezeigt, wie man es nicht macht: erst den Handschlag für ein Dreierbündnis (Jamaika, 2017) zu verweigern, dann ein anderes Dreierbündnis (Ampel, 2021) einzugehen und sich nun wieder innerlich davon zu verabschieden.

Konrad Adenauer wiederum wird ein Satz zugeschrieben, der die Sache in gewisser Weise auf den Punkt bringt: „Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern?“ Was darf man also der Politik raten? Vielleicht das, was man auch einem guten Freund raten würde: weder Prinzipienreiterei noch die Fahne nach dem Wind hängen. Über den Tag hinausdenken. Hoffen, dass sich dieser Weg irgendwann auszahlt.

Wer Verantwortung übernimmt, muss damit leben, dass er Fehler macht. Und wer dies in einer Demokratie, muss damit rechnen, vom Wähler abgestraft zu werden. Möglicherweise bekommt irgendwann eine zweite Chance – wenn die Wähler erkennen, dass es die politische Konkurrenz auch nicht besser macht.

Doch auch die Alternative ist bei Lichte betrachtet keine: Wer die Verantwortung verweigert, bringt dieses Land nicht voran. Was allerdings nicht schaden würde ist, auch einmal eine Wahlniederlage einzukalkulieren. In der Opposition kommt man bisweilen eher zu Kräften, als wenn man ständig verbiegt.

Nutzen Sie die Vorteile unseres

Premium-Abos. Lesen Sie alle Artikel aus Print und Online für

0 € 4 Wochen / danach 189 € jährlich Nachrichten aus Wirtschaft, Politik und Verwaltung in Baden-Württemberg Jetzt abonnieren

Lesen Sie auch