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Attentat auf König Wilhelm I.: Im Generallandesarchiv liegen die Pistolen
Karlsruhe. Wie jeden Tag flaniert der Gast aus Berlin an jenem Julimorgen 1861 über die Lichtentaler Allee. Doch an diesem Tag hat Wilhelm I. von Preußen, der sich zur Kur in Baden-Baden aufhält, einen Schatten. Vom Hotel aus folgt ihm ein dunkel gekleideter junger Mann. Schließlich überholt der Unbekannte den Monarchen, zieht eine doppelläufige Pistole und schießt. In dieser Schrecksekunde hätte sich der Lauf der europäischen Geschichte komplett ändern können, aber der spätere Kaiser Wilhelm I. kommt glimpflich davon. Eine Kugel geht vorbei, eine zweite verletzt ihn leicht am Hals.
Der Täter war ein Jurastudent aus Leipzig und hieß Oskar Becker
Augenzeugen sowie Wilhelms Begleiter, der preußische Gesandte in Baden, überwältigen den Schützen. Während der König relativ gelassen seine vormittägliche Runde fortsetzt, wird der Täter ins Amtsgericht gebracht: Er heißt Oskar Becker, Jurastudent aus Leipzig. Am Abend versammeln sich Teile der Baden-Badener Bürgerschaft vor dem Hotel Messmer, wo Wilhelm residiert, zu einer Sympathiekundgebung. Nicht zuletzt, um den Ruf der Stadt zu retten. Dass man als Sommerfrische des Hochadels gilt, spült viel Geld in die Kassen. Ein Angriff auf einen Monarchen ist da geschäftsschädigend.
Derweil haben die Beamten Beckers Hotelzimmer durchsucht und eine zweite Pistole nebst Werkzeug zum Kugelgießen sichergestellt. Gemeinsam mit den Akten zum Prozess, der vor dem damaligen Hofgericht in Bruchsal stattfand, lagern die Beweisstücke heute im Generallandesarchiv in Karlsruhe.
„Bei beiden Waffen handelt es sich um so genannte Terzerole“, sagt Martin Stingl, der zuständige Referatsleiter des Archivs. Mit den kleinen Vorderladern einen Menschen zu töten sei nur aus kürzester Distanz möglich. Becker gab an, Wilhelm sei unfähig, die deutsche Einheit herbeizuführen. „Tatsächlich“, erläutert Stingl, „trieb das Thema seinerzeit viele junge Menschen um.“ Leipzigs Uni war neben Heidelberg ein Epizentrum deutschnationaler Studenten. Einschlägigen Verbindungen oder Zirkeln gehörte Becker nicht an. „Er war eher ein komischer Vogel als ein skrupelloser Terrorist“, glaubt der Archivar. „Die Prozessakten beschreiben ihn als Einzelgänger.“
Eine ärztliche Untersuchung bestätigte die volle Schuldfähigkeit
Da es in der Familie Fälle von psychischer Krankheit gab, fand eine ärztliche Untersuchung statt. Diese bestätigte jedoch die volle Schuldfähigkeit des Täters. So lautete das Urteil 20 Jahre Zuchthaus wegen versuchten Mordes.
Doch bereits 1866 begnadigte Großherzog Friedrich I. den Attentäter – unter der Bedingung, dass dieser nie mehr deutschen Boden betrete. Um der Auflage nachzukommen, ging Becker in die USA. Einige Quellen behaupten, er sei 1868 in Ägypten gestorben. (gl)