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Erinnerungskultur

Stolperschwellen in Lörrach: Gedenken an NS-Opfer

„Förmliches Recht kann schreiendes Unrecht sein“, sagt Justizministerin Marion Gentges (CDU). Sie kam am Samstag zur Verlegung von zwei Stolperschwellen vor dem Kreiskrankenhaus und dem Amtsgericht nach Lörrach, um der damaligen Opfer und dem Leid, das diese und ihre Familien erfuhren, zu gedenken.

Der Künstler Gunter Demnig verlegt Stolpersteine und Stolperschwellen, die an die Schicksale der von in der NS-Zeit verfolgten und ermordeten Menschen erinnern, hier in Lörrach im Beisein von Justizministerin Gentges und Oberbürgermeister Jörg Lutz.

Beate Mehlin)

Lörrach. „Was in einem rechtsförmigen Akt eingekleidet war, wurde hier entschieden und vollzogen, von Menschen, die hier gearbeitet haben“, erklärt Justizministerin Marion Gentges (CDU) anlässlich des Festakts zur Verlegung der Stolperschwellen Ende vergangener Woche in Lörrach . „Das zu begreifen, ist schwieriger, als historische Daten wiederzugeben; zu begreifen heißt, Verantwortung vor Ort zu übernehmen.“

Die Stadt Lörrach, Amtsgericht, Klinik und Bürgergesellschaft haben sich – „in enger Abstimmung mit der baden-württembergischen Justizverwaltung für das Amtsgericht sowie mit dem Landratsamt für das Kreiskrankenhaus“ – dieser von Gentges eindringlich beschriebenen Verantwortung gestellt: Mit den sogenannten Stolperschwellen, die nun an den Orten verlegt wurden, wo vielen Menschen Unrecht geschah, wird nun an die Opfer von Euthanasie und Zwangssterilisation erinnert – erstmals auch vor einem Amtsgericht.

Rund 50 Bürger sind zunächst vor der Kreisklinik zusammengekommen, um der Verlegung der Stolperschwelle durch den Künstler Gunter Demnig beizuwohnen und neben dem Kommen und Gehen eines Krankenhauses im stillen Gedenken eine weiße Rose für die Opfer niederzulegen. Dass hier ein Zeichen gesetzt werden soll, unterstreichen neben Justizministerin und Oberbürgermeister Jörg Lutz mit ihrer Anwesenheit der Direktor des Amtsgerichts Lörrach Frank Müller, die Geschäftsführerin der Kreiskliniken Monika Röther und der Präsident des Oberlandesgerichts Karlsruhe Jörg Müller. Ebenso waren weitere Vertreter der Justiz und Politik sowie Margret Hamm, die ehemalige Geschäftsführerin der Arbeitsgemeinschaft Bund der „Euthanasie“-Geschädigten und Zwangssterilisierten gekommen.

Stolperschwellen sollen an ganze Opfergruppen erinnern

„Stolperschwellen“ ergänzen die vom Künstler Gunter Demnig seit 1996 verlegten Stolpersteine, die, in den Boden am Ort ihres letzten selbstgewählten Wohnortes eingelassen, mit Namen und Lebensdaten an Opfer von Verbrechen des Nationalsozialistischen Regimes erinnern sollen.

Über 100 000 Stolpersteine umfasst das „größte dezentrale Mahnmal“, teilt das Projekt Stolpersteine auf seiner Internetseite mit, mittlerweile in 31 Ländern. In diesen Tagen wurden Stolpersteine auch in den Orten Kirchen und Istein (Landkreis Lörrach) verlegt, mittlerweile sind es allein in Baden-Württemberg rund 5500 Stolpersteine.

Die Stolperschwellen stehen für ganze Opfergruppen, die nicht namentlich genannt werden können – weil zu wenig über sie bekannt ist oder weil Persönlichkeitsrechte eine Rolle spielen. In Bad Buchau etwa wird mit einer Stolperschwelle daran erinnert, dass 106 jüdische Mitbürger zur Auswanderung gezwungen und 113 deportiert wurden; in Geislingen an der Steige wird der jüdischen Zwangsarbeiterinnen der Firma WMF gedacht.

Und nun wird auch in Lörrach mit zwei etwa 10 auf 50 Zentimeter breiten Messingtafeln an Menschen erinnert, deren Leben durch Urteil und ärztlichen Eingriff fundamental beschnitten wurden – und dies weit über die Zeit des Nationalsozialismus hinaus. „Das Grauen des Nationalsozialismus fand nicht nur weit weg in Berlin statt, nicht nur die politischen Eliten waren beteiligt“, sagt Justizministerin Gentges, „auch hier wurden Verbrechen begangen, wurden Albträume Realität: Das Grauen gab es auch in Lörrach.“

199 Menschen wurden zwischen 1934 und 1938 am städtischen Klinikum Lörrach zwangsweise sterilisiert. Am Amtsgericht in Lörrach war damals das Erbgesundheitsgericht angesiedelt. 373 Menschen wurden dort zur Zwangssterilisation verurteilt. Richter und Ärzte arbeiteten auf der Grundlage des am 1. Januar 1934 in Kraft gesetzten „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“. Welches Leid diese Urteile sowie die ärztlichen Gutachten für die Betroffenen und ihre Familien bedeutete, kann sich kaum einer vorstellen. Von den Betroffenen ist 90 Jahre nach dem Geschehenen fast niemand mehr am Leben.

Auf Grundlage des Gesetzes wurden bis 1945 etwa 400 000 Menschen, die an einer körperlichen oder geistigen Krankheit litten oder nur im Verdacht einer solchen standen, zwangsweise sterilisiert, heißt es auf der Internetseite der Arbeitsgemeinschaft Bund der „Euthanasie“-Geschädigten und Zwangssterilisierten (AG BEZ). „Der größte Teil, der durch Meldebögen und Denunziation erfassten Menschen war nicht erbkrank.“

Ungefähr 300 000 Menschen wurden ab September 1939 Opfer des nationalsozialistischen „Euthanasie“-Programms und wurden in Heil- und Pflegeanstalten ermordet. „Zwangssterilisierte und „Euthanasie“-Geschädigte, die durch den nationalsozialistischen Massenmord an Kranken, Behinderten und sozial Stigmatisierten ihre nächsten Angehörigen verloren haben, gehören zu den ausgegrenzten NS-Opfern und sind bis heute nicht den anerkannten NS-Verfolgten gleichgestellt “, heißt es vonseiten der AG BEZ. „Sie tragen zudem schwer an dem Vorurteil, sie selbst oder ihre Familien seien „minderwertig“ oder „lebensunwert“ gewesen.“

Eine Gleichstellung mit NS-Verfolgten würde eine Rehabilitation bedeuten. Noch heute tut sich der Gesetzgeber schwer, einen solchen Schritt zu vollziehen – obwohl die frühere Befürchtung, den Opfern nach den Bundesentschädigungsgesetz Gelder zahlen zu müssen, mittlerweile kaum mehr gelten kann.

Dem Bundestag liegt aktuell ein Antrag aller Fraktionen außer der AfD vor, die „Aufarbeitung in Bezug auf Opfer von NS-„Euthanasie“ und Zwangssterilisation“ zu intensivieren (Drucksache 20/11945).  Erinnerung und Gedenken an die Opfer von NS-„Euthanasie“ und Zwangssterilisation habe in Deutschland erst spät eingesetzt, nach wie vor gebe es Forschungslücken, etwa  „in der Aufarbeitung der Rolle von medizinischem und pflegerischem Personal sowie von kommunalen Meldestellen, von Pflege-, Fürsorge- und Betreuungseinrichtungen sowie in der Nachgeschichte gerade im Bereich der Zwangssterilisationen“, heißt es in der Begründung des Antrags. Und: „Der Deutsche Bundestag stellt ausdrücklich fest, dass die Opfer der NS-„Euthanasie“ und die Opfer von Zwangssterilisation als Verfolgte des NS-Regimes anzuerkennen sind.“

Doch in Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Kultur und Medien vom 1. August ist davon keine Rede mehr (siehe Kasten) – was auch die AG BEZ bemängelt: Für die Opfer und ihre Angehörigen wäre „dies in vielfacher Hinsicht sehr wichtig, insbesondere, um von dem Stigma des „Lebensunwerten“ befreit zu sein, und auch von der entschädigungspolitischen Ausgrenzung“.

Das Vorgehen der Behörden erfolgte „äußerst planmäßig“

In Lörrach mündete die Auseinandersetzung mit diesem Kapitel der Geschichte in die Verlegung der Stolperschwellen. Ausgangspunkt ist eine Doktorarbeit des Arztes Johann Faltum, der die Akten zur Zwangssterilisation am Städtischen Klinikum – heute die Klinik des Landkreises – und am Amtsgericht Lörrach auswertete. Die Arbeit lege offen, heißt es vonseiten der Stadt, „dass auch im Landkreis Lörrach das Vorgehen der Behörden äußerst planmäßig erfolgte und in mancherlei Hinsicht äußerst willkürlich gehandelt wurde.“ Involviert in die Zwangssterilisationen seien das Erbgesundheitsgericht am Lörracher Amtsgericht als Entscheidungsinstanz sowie die Krankenhäuser in Lörrach und Schopfheim als ausführende Instanzen gewesen.

Vor dem Amtsgericht, wo die zweite Stolperschwelle verlegt wird, rauscht der Verkehr vorbei. Es sei ein wichtiger Tag für die Stadt, diese Schwellen zu verlegen, sagt Oberbürgermeister Jörg Lutz. Die Opfer hätten darauf vertraut, dass Ärzte das Beste für sie wollten. „Die Schwellen mahnen uns, aufmerksam zu sein, uns gegen das Vergessen und für den Erhalt der freiheitlich-demokratischen Grundordnung einzutreten.“

Kulturausschuss-Bericht

Lücken bei Forschung und Aufklärung zur „Euthanasie“ und Zwangssterilisation in der Zeit des Nationalsozialismus sollen geschlossen werden. Im Rahmen der zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel soll ein Projekt initiiert werden, um bundesweit Patienten- und Verwaltungsakten sowie Personalunterlagen der Täter zu lokalisieren, zu sichern und zu konservieren, um sie zugänglich zu machen. Außerdem soll eine nationale  Fachtagung durchgeführt und die Gedenkstätten an den Orten der ehemaligen „T4“-Tötungsanstalten unterstützt werden (Drucksache 20/12415).

Die Stolperschwelle vor dem städtischen Krankenhaus Lörrach erinnert an die 199 Menschen, die dort zwischen 1934 und 1938 zwangssterilisiert wurden. Foto: Beate Mehlin

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