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Aufarbeitung der Kinderverschickung

Gewalt, Vernachlässigung und Heimweh statt Erholung

Jahrzehntelang wurden Kinder in der Nachkriegszeit bis 1980 in Kurheime verschickt, um sich dort zu erholen. Manche waren gar nicht krank und wurden eher aus Erziehungsgründen in den Schwarzwald gebracht, andere hatten Krankheiten wie Asthma. Viele Kinder litten unter Vernachlässigung und erlebten alles andere als eine Jugendfürsorge.

Eine Ausstellung im Hauptstaatsarchiv dokumentiert die Ergebnisse eines Projekts zum Thema Kinderverschickung. Zu sehen sind auch Comics von Birgit Weyhe. FOTOS: Achim Zweygarth

Achim Zweygarth)

Stuttgart. Die heute 73-jährige Trudel Haas wurde als dreijähriges Kind wegen eines Hustens nach Bad Dürrheim verschickt. Wie viele Wochen oder gar Monate sie dort war, kann sie nicht sagen, dazu sind die Erinnerungen zu schwach.

„Nach meiner Rückkehr hatte ich meine Eltern jedenfalls nicht mehr erkannt“, erzählt Haas. Und auch nie mehr mit ihnen darüber gesprochen, seit einigen Jahren leben diese auch nicht mehr. Während ihres Aufenthalts in den Kurheim bekam sie häufig Pudding und Mehlbrei zu essen und erkrankte an Ruhr.

Haas ist eines von Millionen von Kindern in Deutschland, die zwischen 1949 und 1980 zur Kur geschickt wurden. In Baden-Württemberg hat es in diesem Zeitraum rund 480 Kinderkurheime gegeben, ein Großteil davon im Schwarzwald. 212 der Heime waren in privater Hand und wurden durch Einzelpersonen geführt, rund 120 befanden sich in kirchlicher Trägerschaft. Die Diakonie hat vor einiger Zeit auch ein Aufarbeitungsprojekt gestartet.

Zu den Akten gehört eine Rechnung über „Bettnässergebühren“

„Personenbezogene Akten gibt es nur sehr wenige, die wir entdeckt oder bekommen haben“, sagt Christian Keitel. Seit mehr als zwei Jahren leitet er das Projekt „Aufarbeitung Kinderverschickung Baden-Württemberg“, das Ende Oktober endet. Zu den Akten zählen unter anderem Rechnungen, eine davon über „Bettnässergebühren“. „Ansonsten hatten die Heimleitungen nur wenig Interesse an für sie eher unnützem Papier“, sagt Keitel.

In manchen Fällen ließ sich jedoch klären, wo die Betroffenen untergebracht waren. Zugleich bot die Recherche die Möglichkeit, die Verwaltungsprozesse zu erforschen. Dank der Akten ließ sich unter anderem das Weiterwirken nationalsozialistischen Gedankenguts erkennen und die Finanzierung und die Struktur der Kinderverschickung genauer beleuchten.

Paul Bartsch betrieb ein Kinderkurheim in Nickersberg in Bühl. Er war laut den Projektmitarbeitern ein Agitator im nationalsozialistischen Lehrerbund und befürwortete Sterilisation, Euthanasie und Konzentrationslager. Hans Kleinschmidt war Chefarzt im Kindersolbad Bad Dürrheim, in dem auch Trudel Haas untergebracht war. Kleinschmidt hatte während der NS-Zeit in mindestens einem Fall an der späteren Tötung eines Jungen im Rahmen des „Euthanasie“-Programms mitgewirkt.

„Es gehört zur Demokratie, dass wir uns unserer Vergangenheit stellen, sie anerkennen und daraus lernen. Das Projekt zur Kinderverschickung ist dazu ein wichtiger Baustein, da ihre Folgen das Leben sehr vieler Menschen bis heute prägen“, sagt Keitel.

Die Projektgruppe hat sich seit 2022 gemeinsam mit Betroffenen und dem Runden Tisch des Sozialministeriums an die Aufarbeitung gemacht. „Wir haben für rund 100 Betroffene individuelle Recherchen durchgeführt“, sagt Projektmitarbeiterin Corinna Keunecke.

Die Ausstellung soll Erlebnisse von Betroffenen in den Kinderkurheimen zeigen.

Für viele Mädchen und Jungen wurden die Kinderkuren zum Albtraum. Roman H. aus Heilbronn etwa wurde Anfang der 1970er-Jahre auf die Insel Amrum geschickt zur sechswöchigen Kur wegen des Verdachts auf Asthma. Die Heimleitung dort war streng, H. musste als Siebenjähriger oft weinen, weil er Heimweh und Sehnsucht nach den Eltern und Geschwistern hatte, die ihn nicht mal besuchen durften. „So wirst du nie gesund“, sagte eine Pflegerin bei jedem Heulanfall.

„In der Nachkriegszeit hatten die Menschen erstmal ganz andere Probleme, als sich mit dem Thema Kinderverschickung auseinanderzusetzen“, sagt Keunecke. Für viele Eltern war es eine willkommene Abwechslung in der Hoffnung, dass ihr Kind Erholungsurlaub machen darf und man sich selbst auch für ein paar Wochen vom Erziehungsstress mit den Kindern erholen kann.

„Für viele Betroffene war es wichtig, dass man ihnen sagen konnte, dass sie mit ihrer Geschichte nicht alleine waren“, sagt Keitel. Warum dieses Thema aber jahrzehntelang nicht hinterfragt wurde, liege einerseits an der komplexen Struktur und dass die staatliche Heimaufsicht nicht aktiv wurde, betont der Projektleiter.

Viele Kinder und Jugendliche kehrten traumatisiert aus den Kur- und Erholungsheimen nach Hause zurück. Der erste Schock war für viele die lange und oft unverständliche Trennung von den Eltern – Besuche und Telefongespräche waren unerwünscht, Briefe wurden zensiert. In vielen Heimen herrschte eine strenge und lieblose Atmosphäre.

Vielfältige Formen von Gewalt und Vernachlässigung

„Viele Betroffene haben uns aber auch von vielfältigen Formen von Gewalt und Vernachlässigung erzählt wie Schlägen, Essenszwang, Kollektivstrafen, Beschämung, sexualisierter Gewalt, missbräuchlicher oder unerlaubter Gabe von Medikamenten und mehr“, sagt Keitel.

Diese Vorfälle blieben lange im Verborgenen. Nachdem einige Jahre lang die Missstände in Einrichtungen der Jugend- und der Behindertenhilfe im Vordergrund standen, berichteten zunehmend auch ehemalige Verschickungskinder von vergleichbaren Missständen. Damit rückten die teils unzumutbaren Zustände in den Kur- und Erholungseinrichtungen ins Blickfeld der Öffentlichkeit.

„Viele Betroffene weisen zu Recht auf strukturelle Mängel hin wie die fehlende Entnazifizierung in den Erholungsheimen und die teilweise weit über den damaligen Zeitgeist hinausgehende Gewalt in verschiedensten Formen“, sagt Gerald Maier, Präsident des Landesarchivs. Die Erinnerungen, das Wissen und auch die geleistete Recherchearbeit der Betroffenen seien „entscheidend dafür, dem Thema die angemessene Aufmerksamkeit zu verschaffen“, betonte Maier bei der Abschlusstagung am Dienstag in Stuttgart, wo am Abend auch eine Ausstellung zum Thema eröffnet wurde (siehe Infokasten). An der Tagung hatten rund 160 Vertreter von Wissenschaft, Archiven, Behörden, Trägereinrichtungen und Betroffene diskutiert und sich über den Stand der Aufarbeitung informiert.

Rechercheführer soll Betroffenen im Südwesten künftig helfen

Das Projektteam hat außerdem einen Rechercheführer erstellt, der es Betroffenen, Forschenden und anderen Interessierten künftig erleichtern soll, mehr über die Kinderverschickung in Erfahrung zu bringen. Zumal das vor zwei Jahren gestartete Projekt Ende dieses Monats endet.

„Wir würden uns wünschen, dass das Ende des Projekts Kinderverschickung eher als Zwischenstand, denn als Fazit eines Aufarbeitungsprozesses verstanden wird“, sagt Keunecke. Und dass die Betroffenen weiterhin die gesellschaftliche Aufmerksamkeit bekommen, die sie und diese Themen verdienen, „und dass auch weiterhin finanzielle Mittel zur besseren Erforschung dieses Themenkomplexes bereitgestellt werden“, betont die Projektmitarbeiterin.

Der Leiter der Projektgruppe „Aufarbeitung Kinderverschickung“, Christian Keitel, im Interview.

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