Schutzlücke für Kinderrechte im Grundgesetz?
Friedrichshafen. Der Fall ist Realität. Maren Dronia und das Team der Kinderstiftung Bodensee kennen die 14-Jährige gut, ohne die zu Hause kein Alltag möglich wäre. Ihre Eltern sind krank. „Das Mädchen schlüpft in die Rolle der Erwachsenen, kümmert sich auch um den kleinen Bruder“, erzählt die Teamleiterin. Und das hat für die 14-Jährige enorme Folgen.
Sie geht in eine Förderschule, obwohl das Mädchen „viel mehr draufhat“, wie Dronia weiß. Der Unterricht geht hier nur bis 12 Uhr. So kann sie sich mehr um Eltern und Bruder kümmern. In der Schule sehe man auch, dass das Mädchen eigentlich auf eine Regelschule gehöre. Doch diese Entscheidung verantworten die Eltern. Und die Doppelbelastung der Jugendlichen schlägt sich in ihren Leistungen nieder. Ein Fehler im System, meint Maren Dronia. „Hier wird schulische Bildungsarmut vererbt.“
UN-Kinderrechtskonvention ist seit 2010 in Deutschland Gesetz
„Kinder haben das Recht zu lernen und eine Ausbildung zu machen, die ihren Bedürfnissen und Fähigkeiten entspricht.“ So steht es in Artikel 28 der UN-Kinderrechtskonvention, die seit 2010 uneingeschränkt auch in Deutschland Gesetz ist. Doch wer soll dieses Recht für die 14-Jährige durchsetzen? In solchen Fällen von Parentifizierung müsste das Jugendamt einschreiten. Gerichte erkennen in der Umkehr der Elternrolle regelmäßig eine Kindeswohlgefährdung. „Die Realität sieht anders aus“, sagt die Teamleiterin der Kinderstiftung Bodensee, die benachteiligten Kindern und Jugendlichen hilft, sie individuell fördert. Die Ämter seien überlastet, die Töpfe oft leer, die Rahmenbedingungen eng. „In den meisten Fällen ist es eine Katastrophe“, sagt Dronia resignierend. Die Kinderstiftung könne nur wenig tun.
In dem Fall wurde der 14-Jährigen über das Projekt „Luchs“ (Lernen und Chancen schenken) eine ehrenamtliche Lernpatin vermittelt, die sich einmal pro Woche für ein bis zwei Stunden mit dem Mädchen trifft, ihr bei den Hausaufgaben hilft, Freizeit gestaltet, Ansprechpartnerin ist. Einfach für dieses Kind da ist. Doch das reicht nicht.
Um den Kinderrechten mehr Gewicht zu geben, gab es in gut zehn Jahren mehrere Anläufe der Bundesregierung, sie im Grundgesetz zu verankern. 2018 erreichte der Gesetzentwurf von CDU/CSU und SPD nicht die für eine Verfassungsänderung notwendige Zweidrittelmehrheit. Drei Jahre später scheiterte auch ein neu verhandelter Text. Das Kabinett wollte das Kindeswohl nicht „vorrangig“ berücksichtigen, sondern nur „angemessen“. Die Beteiligungsrechte sollten nur auf ein „rechtliches Gehör“ beschränkt werden. Dass es dieser Gesetzentwurf, der hinter der Kinderrechtskonvention zurückblieb, nicht einmal ins Parlament schaffte, sei „kein großer Schaden“, sagt Michael Klundt, Professor für Kinderpolitik an der Hochschule Magdeburg-Stendal. „Kinderrechte sind bereits im Grundgesetz enthalten“, stellt Philipp Donath, Rechtsprofessor an der University of Labour in Frankfurt am Main klar. Dass jedes Kind ein besonderes Recht auf Entfaltung seiner Persönlichkeit hat, stellte schon 1968 das Bundesverfassungsgericht fest. Warum also Kinderrechte explizit ins Grundgesetz schreiben? „Weil wir das endlich sichtbar machen sollten. Die Rechtspraxis zeigt, dass dies notwendig ist“, sagt Donath.
Er hat etliche Gerichtsurteile überprüft und Umsetzungsdefizite festgestellt. Auch die Corona-Pandemie zeige, dass die Politik bisweilen zu leicht über die Kinderrechte hinwegging, als Schulen und Kitas wochenlang geschlossen wurden: „Mit dem Recht auf Bildung in der Verfassung wäre das nicht passiert.“
Kinderrechte in allen Landesverfassungen verankert
Seit 1994 heißt es in Artikel 3 des Grundgesetzes, dass niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden darf. Diese Verfassungsänderung nur für einen Teil der Bürger habe eine Menge bewirkt, sagt Donath.
Er ist überzeugt davon, dass mit den Kindergrundrechten ein Stück weit die rechtlichen Defizite ausgeglichen werden könnten, die Kinder nun mal haben. Sie dürfen weder Verträge schließen noch wählen oder selbst klagen. Folge man der UN-Konvention, müsse Kindern auch ein Recht auf Beteiligung und Entwicklung zugestanden werden. Letzteres enthalte das Recht auf Spiel, Freizeit und Bildung. Zwar sind die Kinderrechte inzwischen in allen Landesverfassungen verankert, aber deren Wirksamkeit sei begrenzt, sagt Donath, der mit seiner Rechtsposition Forderungen des Kinderschutzbunds unterstützt.
Für Maren Dronia von der Kinderstiftung Bodensee reicht das nicht. Sie verweist exemplarisch auf das Kitagesetz und den Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz, der tausendfach unterlaufen wird. „An der Umsetzung scheitert es doch“, sagt die Praktikerin.