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„Die Besoldung sehe ich durchaus als Problem“
Bernd Mutschler: Ich würde sagen, die größte Veränderung war 2005 die Einführung von Hartz IV beziehungsweise das Inkrafttreten des Sozialgesetzbuchs II. Die Fallzahlen sind dadurch stark angestiegen, entsprechend wurde mehr Personal eingestellt. Das war ein Wachstumsmotor. Es gab in den 70 Jahren natürlich auch andere Reformen, aber das war tatsächlich die mit den nachhaltigsten Folgen.
An welche Reformen denken Sie noch?Zum Beispiel Mitte der 1990er-Jahre das Spar-, Konsolidierung- und Wachstumsgesetz. Erstmals wurden Sozialleistungen in größerem Umfang zurückgeführt. Das hat eine große Welle von Klagen ausgelöst, vor allem mit verfassungsrechtlichen Fragen.
Die Arbeitswelt hat sich stark verändert, sie wird immer flexibler. Fluch oder Segen für die Sozialgerichtsbarkeit?Für uns war es ein Segen, dass wir 14 Tage vor dem Corona-Lockdown die E-Akte bekommen haben. Das war ja auch eines der größten Projekte meiner Amtszeit bis dahin. Durch Corona hat sich das völlig in Wohlgefallen aufgelöst, weil alle froh waren, dass man elektronisch arbeiten konnte und die Arbeit im Homeoffice weiterging. Der Fluch liegt ein Stück weit darin, dass die Menschen einfach weniger am Gericht präsent sind. Was natürlich nicht daran hindert, dass man an seinen Fällen arbeitet, aber der kollegiale Austausch hat etwas gelitten.
Wie prägt die Digitalisierung die Arbeitsweise der Sozialgerichte?Man arbeitet als Richter viel am Computer. Ich kann mich noch erinnern, zu Beginn meiner Berufszeit, als der erste Computer in mein Büro in Karlsruhe gerollt wurde. Bis dahin hat man mit Papier, Stift und Stempeln gearbeitet, heute geht alles nur noch über Computer. Das gilt nicht nur für die Verfahren, auch die Verwaltungsarbeit ist inzwischen digitalisiert.
Während der Corona-Pandemie setzte man verstärkt auf Videoverhandlungen. Hat sich das bewährt?Wir sind in diesem Bereich top ausgestattet. Wir haben nicht nur die drei großen Sitzungssäle mit Videotechnik ausgestattet, sondern auch unsere Erörterungsräume. Wir konferieren auch viel per Videokonferenz, insbesondere intern. Aber ich muss einräumen, dass die Zahl der Videoverhandlungen nach dem Ende der Pandemie wieder zurückgegangen ist. Das hat auch damit zu tun, dass es wichtig ist, die Leute vor Ort zu haben. Und zwar beide Seiten, die Kläger und die Beklagtenseite. Wenn sich diese auch mal persönlich begegnen, ist das manchmal ein Mehrwert.
Es braucht den persönlichen Kontakt.Wir haben beim Justizministerium früh dafür Verständnis erfahren, dass die Sozialgerichtsbarkeit nicht geeignet ist, um alle Verhandlungen in Videokonferenzen durchzuführen, sondern dass wir oft den persönlichen Kontakt brauchen. Je mehr man mit rechtlich nicht vorgebildeten Menschen zu tun hat – bei uns am Landessozialgericht, aber auch bei den Sozialgerichten, braucht man nicht zwingend einen Rechtsanwalt – desto wichtiger ist es, mit den Leuten auf Augenhöhe zu sprechen und in direkten Kontakt zu kommen.
Auch die Gerichte stehen zunehmend im Wettbewerb um Personal. Wie ist die Situation in der Sozialgerichtsbarkeit?Durch den Rückgang der Verfahrenseingänge ist unser Personalbedarf derzeit gar nicht so groß. Den, den wir haben, können wir decken. Aber Sie haben recht, das wird zunehmend schwierig. Ich bin auch Prüfer in der mündlichen Prüfung im Zweiten Staatsexamen. Die Kandidatinnen und Kandidaten haben am Tag der Prüfung meist schon einen Job, vielfach außerhalb der Justiz. Die Konkurrenz für die Justiz ist deutlich größer geworden.
Braucht es eine bessere Besoldung, um mehr Personal gewinnen zu können?Die Besoldung sehe ich durchaus als Problem. Man kann zwar mit Vereinbarkeit von Familie und Beruf, mit Flexibilität viel erreichen, aber ich glaube, man muss auch schauen, dass die Besoldung nicht zu weit zurückfällt gegenüber Anwaltschaft, Wirtschaft und Kommunen. Es wurde viel getan für den mittleren Dienst, mit der Aufstockung im 4-Säulen-Modell und auch in den Tarifverhandlungen. Der gehobene und der höhere Dienst sind da etwas vernachlässigt worden.
Wie hat sich die Zahl der Verfahrenseingänge entwickelt?Im Moment hat sich die Zahl der Eingänge stabilisiert. In diesem Jahr werden wir nach aktuellem Stand wieder einen leichten Anstieg haben. Doch die Zugänge waren über mehrere Jahre rückläufig. Das lässt sich unter anderem damit erklären, dass während der Corona-Pandemie viele rechtliche Voraussetzungen ausgesetzt wurden.
Mit Blick auf den Klimaschutz, beschäftigt Sie die Prüfung von Raumeinsparungen. Was ist da geplant?Also es gibt im Moment ein Projekt, das unter dem Titel Umwelt- und Klimaschutzprojekt läuft, aber in Bezug auf uns als Gerichtsbarkeit geht es da um Raumeinsparungen. Ich habe schon früh bei uns im Haus, aber auch bei den Sozialgerichten kommuniziert, dass das möglicherweise der Preis für viel Homeoffice sein kann, dass bei den Räumen eingespart werden muss. Ich denke das ist auch möglich, weil wir wirklich gut ausgestattet sind. Man wird überlegen müssen, wenn man weniger Räume nutzt, wie man die frei werdenden zusammenführen, optimaler nutzen kann, gerade weil unser Gebäude ja durchaus mit energetischen Problemen belastet ist. Ich denke, dass der Raumbedarf sich in der Justiz insgesamt verringern wird.
Welche politischen Entscheidungen schlagen bei Ihnen besonders auf? Beziehungsweise welche werden es vermutlich zeitnah tun?Das neue Bürgergeld ist bisher noch nicht in größerem Umfang bei uns aufgeschlagen. Ich erwarte aber, dass das noch kommt. Denn immer wenn eine Reform des Sozialrechts ansteht, stellen sich neue rechtliche Fragen. Zum Beispiel gibt es nun nicht mehr die Eingliederungsvereinbarung wie bei Hartz IV, stattdessen gibt es einen Kooperationsplan. Und stellen sich neue Fragen, die dann mit einem gewissen zeitlichen Vorlauf auch zu uns gelangen. Die Bezahlkarte für Geflüchtete wird in einzelnen Landkreisen ja bereits genutzt, aber auch in diesem Bereich sind im zuständigen Senat noch keine Fälle angekommen, überhaupt gibt es nur wenige Rechtsstreitigkeiten aus dem Asylbewerberleistungsrecht bei uns. Mich wundert tatsächlich, dass dies nicht stärker der Fall ist, weil das Thema Bezahlkarte in der Öffentlichkeit sehr kontrovers diskutiert wird.
Die Politik befasst sich derzeit verstärkt damit, wie Leistungen für Asylbewerber eingeschränkt werden können. Möglichkeiten gibt es bereits jetzt.Es ist erstaunlich, aber die Zahl der Fälle, die bei uns aus dem Asylbewerberleistungsgesetz eingehen, ist klein. Obwohl es schon jetzt die Möglichkeiten gibt, Leistungen abzusenken, zum Beispiel über Paragraf 1a, habe ich aufgrund der Zahlen den Eindruck, dass davon nicht in größerem Umfang Gebrauch gemacht wird.
Worum geht es in dem Paragrafen?Wenn jemand ausreisepflichtig ist und zum Beispiel seine Papiere nicht vorliegen oder seine Identität nicht geklärt ist, dann können Leistungen eingeschränkt werden. Aber wir haben den Eindruck, dass es sich bei der Anwendung der Regelung nicht um ein Massenphänomen handelt. Im Moment wird ja stark über diese Themen diskutiert. So könnte es durchaus sein, dass man das bestehende Recht künftig stärker nutzen wird. Aber da müssen wir ggf. einen zeitlichen Vorlauf abwarten, bis diese Fälle – falls es zu einer Änderung der Praxis kommt – bei uns aufschlagen.
Der Deutsche Juristentag findet übernächste Woche in Stuttgart statt. Welches Thema interessiert sie besonders? Worauf freuen Sie sich?Also ich denke, man freut sich tatsächlich auf die Begegnung mit ganz vielen verschiedenen Juristen. Das ist ja das Tolle beim Juristentag, dass man auch außerhalb der Justizwelt Begegnungen hat. Auch sieht man „alte Bekannte“ wieder. Ansonsten gebe ich jetzt zu, dass das Thema des Beschäftigtenbegriffs, das diesmal aufgerufen wird, für mich eher ein bisschen sperrig ist. Denn man macht schon seit Jahren Vorschläge und entwickelt Ideen, die Altersversorgung von bestimmten Selbstständigen zu ändern. Bisher sehe ich allerdings nicht sehr viel Bewegung. Das mag daran liegen, dass es sich grundsätzlich um ein schwieriges Unterfangen handelt.
Inwiefern?Die Altersvorsorgesysteme zu verändern, ist tatsächlich ein schwieriges Thema. Denn man greift dabei in Lebenssachverhalte ein, die sich über einen langen Zeitraum entwickelt haben. Ich bin gespannt, ob man da zu Ergebnissen kommen wird beim Deutschen Juristentag. Andererseits geht es natürlich auch um eine gewisse Annäherung des Verständnisses von „Beschäftigung“ im Arbeits- und Sozialrecht. Wobei ich auch da bisher nicht sehr viel Bewegung gesehen habe. Ich bin gespannt, ob sich das in Stuttgart ändert.
Das Gespräch führte Jennifer Reich
Zur Person
Der 63-jährige Bernd Mutschler ist seit 2018 Präsident des Landessozialgerichts Baden-Württemberg mit Sitz in Stuttgart. Nach Jurastudium und Rechtsreferendariat in Freiburg trat er 1990 in den höheren Justizdienst des Landes ein und war dort zunächst am Sozialgericht Freiburg tätig. 2007 wurde er zum Richter am Bundessozialgericht gewählt, wo er zuletzt dem für das Arbeitsförderungsrecht zuständigen 11. Senat sowie dem für Grundsicherung für Arbeitssuchende zuständigen 4. Senat angehörte.