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Poesie in den Städten

Hölderlin in der Bäckerei, Rilke in der Bankfiliale: Lyrikprojekte im Land

Eine Lanze für die Lyrik brechen wollen verschiedene Projekte, die die Poesie in den öffentlichen Raum tragen. Das ist weit entfernt vom verhassten Auswendiglernen von Gedichten in der Schule, das viele mit Lyrik verbinden. Poesie in der Stadt, in der Landschaft und in Kombination mit anderen Künsten schafft neue Zugänge.

Beim Ulmer Lyriksommer war die „Rosskultur“ bei vielen beliebt.

Ulmer Lyriksommer)

Stuttgart. Wie poetisch ist die Landeshauptstadt? Dass Stuttgart, die Stadt, die die meisten Menschen mit dem Auto verbinden, überhaupt etwas mit Lyrik zu tun hat, überrascht. Doch gerade diese Frage war Ausgangspunkt eines Projekts, durch das Interessierte sich nun mithilfe eines poetischen Stadtplans auf die Spuren dichterischen Ausdrucks in der Stadt machen können.

Initiiert wurde es vom Publizisten Matthias Gronemeyer, dem Wortkünstler Timo Brunke und der Gestalterin Christina Schmid – als Bürgerbeteiligungsprojekt, bei dem jeder poetische Sichtungen im Stadtraum melden konnte. „Die Vorgabe war, haltet die Augen offen, ob ihr etwas Poetisches findet“, so Gronemeyer. „Wir waren dabei an altehrwürdigen, in Stein gemeißelten Gedichten wie an spontaner Stadtlyrik interessiert.“

Unüberlegt Hingeschriebenes mit poetischer Wirkung

50 Poesieorte sind auf dem Stadtplan versammelt. Das Spektrum reicht vom Rilke-Gedicht an der BW-Bank am Hauptbahnhof über Verse schwäbischer Dichter bis zu Worten Unbekannter, „die hingeschrieben wurden und ihre poetische Wirkung im Kontext entfalten“, meint Gronemeyer. Ein Hölderlin-Zitat im Schaukasten einer Bäckerei, ein Textausschnitt von Robert Walser in einem anderen Schaufenster, Steintafeln, aber auch ein „Primitiv, aber gut“, das mit schwarzem Stift auf einen Laternenpfahl notiert ist, lassen sich entdecken. „Dabei hat sich einer vielleicht gar nichts gedacht, aber mit Kennerblick erkennt man das Lyrische“, befindet Gronemeyer – dass die Worte nämlich im Versmaß Anapäst erklingen.

„Wir wollten unterlaufen, dass Lyrik so etwas Hehres ist. Die Welt ist ganz oft poetisch, man muss nur einen Blick dafür entwickeln“, so Gronemeyer. „Poesie steckt nicht nur zwischen zwei Buchdeckeln.“ Die Stadt sei in der Tat voller Texte, man müsse nur genau hinschauen.

Das Projekt, das im Rahmen der Förderlinie Kunst im öffentlichen Raum von der Stadt Stuttgart Mittel erhielt, will deshalb das eigene Entdecken fördern: Über den poetischen Stadtplan hinaus lässt sich mit verändertem Blick auch Neues finden. „Wir zeigen exemplarisch auf, was es gibt“, sagt Gronemeyer, „man kann sich impfen und anregen lassen, selber zu schauen.“

Das gilt auch in Ulm. Im dritten Jahr findet aktuell der Ulmer Lyriksommer statt, der Poesie in der Stadt zum Klingen bringt. Er ist Teil des Literatursommers Baden-Württemberg und wird darüber sowie von der Baden-Württemberg Stiftung und von der Kulturabteilung der Stadt Ulm gefördert. „Wir haben den Anspruch, Lyrik in vielen Formaten und an vielen Orten zugänglich zu machen, um ein breites Publikum zu erreichen“, sagt Manfred Reichert vom Verein Dichter dran, der den Lyriksommer gemeinsam mit Kuratorin Christine Langer organisiert. „Mit traditionellen Lesungen ist der Kreis auf ein lyrikaffines Publikum begrenzt.“

Sitzt die Rezitatorin dagegen – wie in der ersten Auflage des Lyriksommers – hoch zu Ross und trägt Gedichte auf dem Ulmer Münsterplatz vor, ist der „Rosskultur“ die Aufmerksamkeit vieler sicher. Doch auch mit der Kombination Jazz und Lyrik wie im Juli auf der Wilhelmsburg oder argentinischem Tanz und Lyrik erreichen die Macher ein anderes Publikum. „Wir versuchen, Vielfalt im Angebot zu haben und Lyrik mit anderen Künsten zu verknüpfen“, erklärt Reichert.

Im Oktober endet der Lyriksommer in Ulm mit einer Lyriknacht

Im September findet ein Lyrikspaziergang im Botanischen Garten der Universität Ulm statt, bei dem Gedichte zum diesjährigen Thema „Der Freiheit eine Gasse – Verse im Aufbruch“ vorgetragen werden. Im Oktober endet der diesjährige Zyklus mit der Lyriknacht mit Lesungen und Gesprächen mit den Autorinnen und Autoren. „Wir wollen Diskurse anstoßen, auch um Leute neugierig zu machen“, betont Reichert, etwa indem man Dichtung und Künstliche Intelligenz vorstelle.

Teil des Konzepts ist, den Lyriksommer nicht als konzentriertes Festival abzuhalten, sondern ihn „im Frühling starten und im Herbst enden zu lassen“, so Langer. Das habe auch praktische Gründe, weil die Organisation vom Verein sonst nicht zu leisten wäre. „Wir wollen den Lyriksommer in die Köpfe der Leute bringen, eine Marke bilden“, sagt Reichert. Dass das schon im dritten Jahr funktioniert, zeigten die Anfragen von Künstlern weit über die Region hinaus, die sich gerne präsentieren wollen. „Wir halten die Fahne hoch für die Dichtung“, sagt Langer. „Natürlich ist der Fokus allein auf Lyrik mutig, aber das Feedback ist gut.“ Die Planungen für einen Lyriksommer 2025 laufen jedenfalls schon an.

Grenzüberschreitungen

Poesie im Raum, in der Landschaft zu vermitteln, ist Anliegen verschiedener Dichterwege, etwa im Stuttgarter Westen im Schwarzwildpark, in Owingen am Bodensee oder auf den seit Kurzem 27 Stationen des DreylandDichterwegs. Er verbindet seit 2016 Weil am Rhein, das schweizerische Basel und das französische Huninguen und präsentiert Gedichte in alemannischer Mundart.

Um dichterische Grenzüberschreitung geht es auch auf dem Lautpoesiefestival Ende September, das in Freiburg startet und dann nach Basel und Schopfheim wandert. Die Kooperation der Literaturhäuser Freiburg und Basel und Schopf2 Kreativpioniere aus Schopfheim findet im Rahmen des Literatursommers statt.

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