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„Die Gesellschaft ist eine andere geworden“
Nein, im Gegenteil. Mir wird immer klarer, dass die Entscheidung sehr richtig war, wobei das ein Prozess von mindestens einem Jahr war. Es sind nicht nur negative Erlebnisse, die dazu führten, sondern auch positive, bei denen man sich vor Augen geführt bekommt, wie kurz das Leben ist und dass es auch noch etwas anderes gibt, als einen 12- bis 14-Stunden-Job. Ich habe das ganze Privatleben zurückstellt. Meine Kinder kennen mich nur als Bürgermeister oder Oberbürgermeister und jetzt sind sie 20 und 24. Dann überlegt man, ob es noch etwas anderes gibt.
Sie sagten auch, dass die Coronazeit eine Rolle gespielt hat.Ich habe im Nachhinein gemerkt, dass mich die Coronazeit sowohl psychisch als auch physisch mehr belastet hat, als ich das damals wahrgenommen habe. Das war wie in einer Blase, weil man keinen Kontakt hatte und ständig unter dem Druck stand, die Corona-Verordnung umzusetzen, die ja teilweise erst nachts gekommen sind und morgens gegolten haben. Das war ein Irrsinn. Für unsere Stadt mit den vielen Kindergärten und Schulen war das eine große Herausforderung.
Sie waren fast ein Vierteljahrhundert Bürgermeister, erst in Mauer, dann in Sinsheim. Welche Veränderungen gab es in dieser Zeit?Die Gesellschaft ist eine andere geworden. Die Themen Neid, Missgunst spielen eine ganz andere Rolle. Gleichzeitig gibt es eine höhere Erwartungshaltung der Bürger. Hier spielen auch die sozialen Medien mit rein, die 2001 noch kaum verbreitet waren, die es aber heute erlauben, Negatives zu verbreiten. Beispiel: Als ich angekündigt habe aufzuhören, wurde in den sozialen Medien geschrieben: ,Gott sei Dank hört der Albrecht auf, dann fällt auch die Tempo-30-Zone weg.‘ Ich habe damit aber genauso wenig wie unser Gemeinderat etwas zu tun. Wir haben die Zone formal beschließen müssen, auf Grundlage einer UN-Menschenrechtskonvention.
Wie hat sich das Thema Bürokratie verändert?Diese Bürokratisierung ist brutal. Auch wenn es Arbeitskreise für die Entbürokratisierung gibt, kommt immer mehr dazu. Das Traurige ist, dass es gleichzeitig auch seine Berechtigung hat. Wenn heute irgendwas passiert, wenn jemand hinfällt, dann schaut man erst einmal, wie man die Stadt belangen kann und geht zum Rechtsanwalt. Das ist so eine Spirale: Man baut immer mehr Bürokratie auf, auch um sich zu schützen.
Und die Aufgaben der Kommunen?Die Herausforderungen sind anders als 2001, als ich anfing. Die Aufgabenstellung sind heute viel komplexer. Das macht es nicht leichter für Gremien. Es wird immer schwieriger, Leute zu finden, die bereit sind, die nötige Zeit zu investieren. Gestiegen sind die Anforderungen an alle möglichen Dinge, etwa an in die Kinderbetreuung. Das muss aber auch bezahlt werden.
In Sinsheim gab es einen Bürgerentscheid zur Wiedereinführung der Unechten Teilortswahl, die der Gemeinderat eigentlich aufgehoben hatte. Würden Sie sie noch mal abschaffen?Eindeutig ja. Ich bin der festen Überzeugung, dass sich dieses Wahlverfahren überholt hat. Die Parteien und Gruppierungen sind dadurch gezwungen, mehr Kandidaten zu finden. Dadurch leidet die Qualität mitunter. Außerdem haben wir durch das komplizierte Wahlverfahren viele ungültige Stimmen, wodurch das Ergebnis in den Teilorten verzerrt werden kann. Ganz zu schweigen von den übergroßen Gremien. Übrigens kam der Vorstoß damals zur Abschaffung nicht von mir, sondern aus dem Ältestenrat. Der Bürgerentscheid hat auch nichts mit meiner Entscheidung aufzuhören zu tun. Es stellt sich aber schon die Frage, ob man einen so komplexen Sachverhalt überhaupt in die Hände der Bürger legen kann.
Sollte man die Möglichkeit, dass Kommunen die Unechte Teilortswahl wiedereinführen können, abschaffen?Das wäre für die Kommunen ein eleganter Weg. Der Trend zur Abschaffung ist eindeutig, deshalb wird sich der Gesetzgeber wohl raushalten. Die Landespolitik sagt natürlich, ,Wir holen nicht die Schläge ab, die wir nicht verdient haben‘ . Allerdings war die Unechte Teilortswahl für eine Übergangszeit gedacht, jetzt ist die Gemeindereform 50 Jahre her.
Sie sind bekannt dafür, rund um die Uhr zu arbeiten und für die Bürger erreichbar zu sein. Muss ein Oberbürgermeister das?Das muss er sicherlich nicht. Aber es war mein Anspruch, am Samstag und Sonntag bis zu acht Termine bei Vereinen wahrzunehmen. Hier bekommen Sie auch Dankbarkeit zurück. Ich hatte weder in Mauer noch in Sinsheim bei meiner Wiederwahl Mitbewerber. Auf der anderen Seite war der Druck in der ersten Amtszeit enorm. Wäre ich nicht wiedergewählt worden, hätte ich keine Absicherung gehabt.
Sollten die Bürger auch mal ihre eigene Erwartungshaltung an den Oberbürgermeister hinterfragen?Am Anfang gab es diese Erwartungshaltung in Sinsheim nicht. Das hat sich erst im positiven Sinne entwickelt. Am Anfang haben die Leute bei meinen Besuchen gar nicht gewusst, was sie mit mir anfangen sollen, weil sie das so gar nicht kannten. Ich habe gemerkt, dass es den Leuten gut getan hat und konnte aus den Terminen immer viel rausziehen, kenne dadurch sehr viele Bürger mit Namen. Wenn sie mir am Sonntag etwas mitteilen, erhalten Sie am Montag eine Antwort. Das kostet natürlich Kraft.
Kann man mit diesem persönlichen Einsatz Diskussionen aufhalten?Nein, gerade auch die Kommentare in den Sozialen Medien nicht. Die wirklich negativen sind zum Glück sehr selten. Wobei vorherrschende Haltung heutzutage ist: ,Es ist nicht schlecht‘ oder ,es ist gut, aber‘. Im Schwäbischen sagt man ,Net gscholte, ist genug gelobt‘. Das war früher nicht so.
Im Flur zu Ihrem Amtszimmer steht die Büste eines berühmten Sohns der Stadt Sinsheim: Dietmar Hopp, der SAP-Mitgründer. Wie wichtig war er für die Stadtentwicklung?Für unsere Stadt ist es ein Segen, dass Dietmar Hopp aus Hoffenheim stammt und sich für Sinsheim begeistern konnte. Er hat mich wohlwollend begleitet. In meiner Amtszeit haben wir allein für städtische Projekte über 35 Millionen Euro erhalten und hier zählen Projekte der Stiftung, wie der Klimaarena, gar nicht dazu. Hier bedarf es eines Vertrauensverhältnisses.
Und wenn es ein solches Vertrauensverhältnis nicht gibt?Dann läuft Vieles bürokratischer ab.
Nun gehen Sie zu Anpfiff ins Leben, eine Initiative der Dietmar-Hopp-Stiftung. Inwieweit können Sie hier Ihre bisherigen Erfahrungen einbringen?Durch meine Arbeit habe ich ein großes Netzwerk. Als ehemaliger Fußballer und begeisterter Sportler wird mir die Aufgabe sicher Freude machen.
Zur Person
Jörg Albrecht (parteilos) hat das Verwaltungsgeschäft von der Pike auf gelernt. Nach dem Studium an der Hochschule für öffentliche Verwaltung in Kehl, das er als Diplom-Verwaltungswirt abschloss, war er Sachbearbeiter beim Landratsamt des Rhein-Neckar-Kreises und bis 2001 Kämmerer der Stadt Rauenberg. 2001 wurde er zum Bürgermeister der Gemeinde Mauer gewählt und im Jahr 2009 wiedergewählt. 2012 kandidierte er erfolgreich für das Amt des Oberbürgermeisters der Großen Kreisstadt Sinsheim, die zwölf Teilorte umfasst.
Im Februar hat Albrecht angekündigt, dass er sein Amt vorzeitig zum 31. August niederlegen wird. Zu seinem Nachfolger wurde im Juli Marco Siesing, Bürgermeister der Gemeinde Eschelbronn (Rhein-Neckar-Kreis), gewählt.