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Das Ziel: Verbrecherkarrieren frühzeitig zu stoppen
Stuttgart. Sechs Täter, zwischen 14 und 16 Jahren alt, misshandeln auf einem Bolzplatz einen 16-Jährigen lebensgefährlich. Das Opfer erleidet zahlreiche Frakturen, kann sich sechs Wochen nur flüssig ernähren. Ein anderes trägt massive Verbrühungen, Stichverletzung und Schädelprellung davon, als ein Paar ihn stundenlang foltert und erniedrigt – live über die sozialen Medien. Motiv: Eifersucht. Zwei Fälle von Jugendkriminalität, die beim Jahrespressegespräch der Staatsanwaltschaft Stuttgart vorgestellt wurden.
Laut Kriminalitätsstatistik für 2023 sind Delikte, besonders Gewalttaten, unter Jugendlichen gestiegen: bundesweit um 12 Prozent bei Kindern unter 14 Jahren, bei Jugendlichen zwischen 14- und unter 18-Jahren um 9,5 Prozent.
Jugendkriminalität im Land ist gestiegen
In Baden-Württemberg verzeichnete die Polizei 2023 bei der Jugendkriminalität rund acht Prozent mehr Tatverdächtige als im Vorjahr. Das entspreche etwa dem Vor-Corona-Niveau von 2019, so Innenminister Thomas Strobl. Ein Drittel der Fälle betreffe Diebstahl, besonders Ladendiebstahl hat zugenommen. Fast jedes fünfte Delikt habe mit Aggression zu tun, 14 Prozent mit Betrug. Gestiegen seien auch Taten mit dem Handy – Beleidigungen und Bedrohungen, Verbreitung von Gewaltbildern, Kinderpornografie und rechtsradikale Symbole.
Seit 2023 gibt es das Programm zum Umgang mit „Besonders auffälligen jungen Straftäterinnen und Straftätern“ (BajuS), eine Weiterentwicklung des Initiativprogramms für „Jugendliche Intensivtäter (JugIT)“. Der Leitgedanke lautet Erziehung und enge, institutionalisierte Zusammenarbeit aller mit Jugendkriminalität befassten Stellen.
Staatsanwaltschaft, Polizei und Jugendgerichtshilfe unter einem Dach
Unter einem Dach arbeiten Staatsanwaltschaft, Polizei und Jugendgerichtshilfe im Haus des Jugendrechts. Das startete – wie das JugIT – bundesweit 1999 im Stuttgarter Stadtteil Bad Cannstatt. Ziel: junge Menschen frühzeitig und zielgerichtet pädagogische Angebote vermitteln, um sie von weiteren Straftaten abzuhalten. Im Einzelfall werden andere Institutionen einbezogen, etwa Schulen, Vereine oder Arbeitsagenturen. Dabei geht es um Lerneffekte im Entwicklungsalter, Fehlereinsicht und schnell die Konsequenzen des eigenen Tuns zu spüren. Jugendstrafe ist das letzte aller Mittel.
„Das Jugendstrafrecht ist geleitet vom Erziehungsgedanken“, betont Baden-Württembergs Justizministerin Marion Gentges. „Diesem Leitbild wird in einem Haus des Jugendrechts optimal Rechnung getragen – kurze Wege und einen schnellen Austausch zwischen allen Beteiligten.“ Das Konzept habe sich in Baden-Württemberg nun schon vielerorts und mittlerweile seit 25 Jahren bewährt und sei zu einem wesentlichen Bestandteil bei der erfolgreichen Bekämpfung von Jugendkriminalität geworden, so Gentges.
Schneller Austausch möglich
In Baden-Württemberg gibt es noch acht weitere Häuser des Jugendrechts, eines davon in Heilbronn. Auch dort sitzen die Behörden Zimmer an Zimmer. Das macht den schnellen Austausch möglich zwischen Mitarbeitenden von Verteidigung, Staatsanwaltschaft, Jugendamt, Psychologie. Da finden Gespräche mit allen Beteiligten statt, Opfern, Tätern, Eltern, Umfeld, zu zweit, per Chat und Kamera, je nach Fall. In 90 Prozent funktioniere der Schuss vor den Bug, so Michael Dzillack, Hausleiter und Kriminalhauptkommissar, im SWR. Der Rest indes könnte zu „Stammgästen“ werden.
Als Problem sieht man bei der Staatsanwaltschaft Stuttgart den starken Zuwachs von Straftaten Strafunmündiger und die Zunahme qualitativ schwieriger Verfahren – angesichts „nicht adäquat ansteigender personeller Ausstattung“. Durch Gewaltvideos in den sozialen Medien sänken Hemmschwellen. Täter erniedrigten so Opfer weiter, um sich selbst zu erhöhen. Auch mangelnde Integrationsfähigkeit oder –willigkeit wird genannt und die steigende Zahl Jugendlicher, „die erzieherisch gar nicht mehr erreichbar sind“.
Antiaggressionstrainings und Medienkompetenz
Sind diese Jugendlichen aber erreichbar, könnten in Häusern des Jugendrechts Problemfelder, etwa Fehlentwicklungen im sexuellen Bereich, Gewaltdelikte oder Respektlosigkeit gegenüber Polizei und Rettungskräften, erkannt und dann bedarfsgerecht reagiert werden. Dazu gehörten Trainings im Bereich Antiaggression und Medienkompetenz über Projekte mit Polizeibeamten bis hin zur Therapie.
Bislang gibt es neun Häuser des Jugendrechts, weitere sind geplant
Derzeit gibt es in Baden-Württemberg neun Häuser des Jugendrechts. Die bundesweit erste Einrichtung dieser Art wurde 1999 als Modellprojekt in Stuttgart-Bad Cannstatt eröffnet. Weitere Häuser des Jugendrechts kamen hinzu: 2012 in Pforzheim-Enzkreis, 2015 in Mannheim, 2017 in Heilbronn, 2020 in Ulm und Offenburg, 2021 in Karlsruhe sowie 2022 in Villingen-Schwenningen und Waldshut-Tiengen. In Planung sind Häuser an Standorten wie Stuttgart-Mitte sowie in Heidelberg für Stadt und Rhein-Neckar-Kreis.