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Stuttgart 21

Das bestgeplante Projekt oder das größte Desaster?

Seit den Achtzigern wird über den neuen Bahnknoten in der Landeshauptstadt und die Strecke nach Ulm diskutiert. Letztere ist fertig, das Gesamtprojekt aber weiter in der Schwebe, weil für entscheidende Verbesserungen bislang das Geld nicht da ist. Trotzdem verspricht die Bahn eine Eröffnung in zweieinhalb Jahren.

Der CDU-Politiker Heiner Geißler (Bildmitte) bei der Pressekonferenz zur S21 Schlichtung im Jahr 2010 mit Volker Kefer (Deutsche Bahn)

7aktuell.de | Thomas Geromiller)

Stuttgart. Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen, so Michael Joukov, Bahnexperte der Grünen-Fraktion, kürzlich im Landtag. Denn rund um das EM-Spiel der deutschen Nationalmannschaft gegen Ungarn in Stuttgart und das Hotel-Quartier gegenüber vom alten Kopfbahnhof ist die Riesenbaustelle mitten in der Stadt einmal mehr bundesweit Gesprächsstoff geworden.

„Stuttgart 24“ war die Botschaft eines jener TV-Beiträge, auf die die Marketingfachleute von Stadt und Land eigentlich setzen wollten, um wie beim Sommermärchen 2006 zusätzliche Gästescharen anzulocken. Stattdessen waren vor allem die Baustellen im Bild. Und die, die mit der Bahn anreisen, erleben die Komplikationen am eigenen Leibe und müssen erst einmal weite Fußwege auf sich nehmen. Sogar der zuständige Bahn-Vorstand Berthold Huber räumt ein, dass Passagieren „viel zugemutet wird“.

Der früheste Eröffnungstermin soll nun Dezember 2026 sein

Seit der jüngsten Lenkungskreissitzung ist der Dezember 2026 als neuer, frühester Eröffnungstermin für den Tiefbahnhof genannt, parallel zum bundesweiten Fahrplanwechsel soll auch der neue digitale Knoten in Betrieb genommen werden. Vom Tisch ist damit die Teilinbetriebnahme 2025 zum Start in die heiße Phase des Landtagswahlkampfs, in der mit Sicherheit alte Positionen vor allem von den Tiefbahnhof-Gegnern nochmals besonders in den Blick genommen worden wären. Etwa das berühmt-berüchtigte Plakat in der Kampagne zur Volksabstimmung 2011, als in großen Lettern die Frage „Weiter ärgern oder fertig bauen?“ für Pro-Stimmung sorgen sollte.

Noch realitätsferner waren die Angaben, mit denen CDU, SPD, FDP und wesentliche Teile der Wirtschaft und der Kammern in die Abstimmung gezogen waren. Der Kostenrahmen war bereits bei rund 4,5 Milliarden Euro angelangt, etwa dem doppelten der ursprünglichen Kalkulationen in den Neunzigern, als die Idee vom neuen großen Stadtviertel auf den Gleisanlagen zwischen Innenstadt und Neckar erste Gestalt annahmen.

Die neue Berechnung bestätigte nach Meinung der Befürworter 2011 jedenfalls die Seriosität des ganzen Projekts: „S 21 ist im Kostenrahmen und hält weiterhin einen Puffer für mögliche Baupreissteigerungen vor“, hieß es in der offiziellen Broschüre des Landes unter Punkt 4. Aus heutiger Sicht ist Punkt 5 mindestens ebenso spannend: „Im Falle der Kündigung wird die Deutsche Bahn AG gegenüber dem Land, laut ihren Äußerungen im Rahmen der Schlichtung, Kosten von 1,5 Milliarden Euro geltend machen.“ Da hätten ohne Zweifel das Land und die Steuerzahler schwer getroffen werden können, für die inzwischen elf Milliarden Euro, die mittlerweile amtlich veranschlagt sind, gilt das aber gesichert.

Insgesamt ist die Geschichte des Milliardenprojekts auch eine Geschichte ungedeckter Wechsel. Weil die Projektbetreiber von Anfang an nicht mit offenen Karten spielen wollten, weil viele Widerhaken erst während der von Heiner Geißler (CDU) geleiteten Faktenschlichtung im Dezember 2010 offenbar wurden. Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer (Grüne) düpierte die Deutsche Bahn, als er mit einem von ihm selbst errechneten Fahrplan alle Kapazitätsversprechen ins Reich der Phantasie katapultierte. Nicht ganz ernst gemeint, aber durchaus beeindruckt machte ihm der Bahnvorstand ein Jobangebot. Kenner der Schwächen sind auch Ministerpräsident Winfried Kretsch-mann und Verkehrsministerin Winfried Hermann (beide Grüne). Ersterer akzeptierte das Ergebnis der Volksabstimmung zum Ärger vieler früherer Weggefährten, wollte aber zur Eröffnung 2025 noch einmal sagen, was er schon immer über Stuttgart 21 sagen wollte.

Das bestgeplante Projekt aller Zeiten wird zum Desaster

Daraus wird nun nichts werden, denn 2026 ist Kretschmann mit Sicherheit nicht mehr im Amt. Hermann wiederum nutzt jede Gelegenheit, um die Angaben der Bahn zu relativieren. „Es wird noch Jahre dauern“, sagt der Verkehrsminister nach der Lenkungskreissitzung und nennt sogar das Jahr 2040. „Das bestgeplante Bahnprojekt aller Zeiten hat sich in der Praxis zu einem Desaster entwickelt“, sekundiert Joukov.

Sabine Hartmann-Müller, CDU-Landtagsabgeordnete aus Südbaden, nennt in der parlamentarischen Reaktion auf die Verschiebung die Zeitverzögerung zwar ärgerlich. „Es macht keinen Sinn, einen halbfertigen Bahnhof zu eröffnen. Entsprechende Überlegungen einer Miniinbetriebnahme mit nur wenigen Gleisen und Zügen haben wir stets abgelehnt“, betont Hartmann-Müller.

Die Funktionsfähigkeit des digitalen Knotens

Der Briefverkehr der Landesregierung, namentlich von Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne), mit Bund und Bahn füllt inzwischen Aktenordner. Gegenwärtig geht es, neben anderem, um nicht mehr und nicht weniger als die Funktionsfähigkeit des digitalen Knotens insgesamt. Ihn versteht die DB als bundesweiten Prototyp. „Werden mit der Umsetzung von dessen Baustein drei die kapazitätssteigernden Effekte nicht unter Beweis gestellt“, schreibt Hermann, „setzt dies die Digitale Schiene Deutschland insgesamt aufs Spiel.“

Das Land erwarte, dass Bund und Bahn zu ihren Zusagen stehen, will heißen, die notwendigen Gelder in Millionenhöhe zur Verfügung stellen.

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