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Kommentar: Wie rassistisch sind die großen Werke deutscher Literatur?
LUDWIGSBURG. Wie rassistisch sind die großen Werke der deutschen Literatur? Diese Frage ist schon länger keine rein akademische mehr, sondern hat nun auch die Bildungspolitik erreicht.
Das Kultusministerium des Landes Baden-Württemberg hatte den Nachkriegsroman „Tauben im Gras“ des Autors Wolfgang Koeppen (1906-1996) zur Pflichtlektüre im Abitur für das Fach Deutsch an Beruflichen Gymnasien ausgewählt. Hiergegen ziehen nun eine Ulmer Lehrerin und eine breite Koalition von Antirassismus-Aktivisten, Politikern und Literaturprofessoren zu Felde. Die Forderung: Weg mit dieser Lektüre!
Die Begründung und vieles mehr ist in einer hierfür initiierten Online-Petition nachzulesen. So erkennt man in der Behandlung dieses Stoffes „staatlich verordnete Dehumanisierung […]“. Man verwehre „Nicht-weißen Schüler*innen“ und auch der Lehrerin selbst Diskriminierungsfreiheit, ferner werde Diversität nicht in den Mittelpunkt gestellt. Man muss hierzu wissen, dass in Koeppens Roman sehr häufig das sogenannte „N-Wort“ vorkommt. Lese man diesen Text nun im Unterricht gemeinsam oder rezitiere man sogar aus ihm, so erfolge rassistische Diskriminierung. Das grundsätzliche Anliegen ist berechtigt und wichtig. Dennoch irritieren Ton und Inhalt der Petition gravierend.
„Sprach- und Textanalyse? Brauchen wir nicht.“
Die Petition und auch Äußerungen ihrer Verteidiger schlagen einen Ton moralischer Absolutheit und maximaler Betroffenheit an, bei der ein Kritiker Glück haben muss, wenn ihm nur mangelnde Sensibilität vorgeworfen wird. Apropos Sprache: Diese Debatte ist ein weiterer Aufweis, wie sehr ein fast schon magisches Verständnis von Sprache immer mehr dominiert. Es ist das bloße Vorkommnis eines bestimmten Wortes, welches, unabhängig von seinem Kontext, unbedingt zu tilgen sei. Sprach- und Textanalyse? Brauchen wir nicht. Da ja die Sprache Wirklichkeit schaffe, müsse man sie nur entsprechend ändern, um zur Wirklichkeit, wie sie sein sollte zu gelangen. Aber: Glaubt denn jemand ernsthaft, durch eine Säuberung der Sprache verschwinden auch die negativen Denkmuster der Menschen?
Die Forderung nach Diskriminierungsfreiheit indes, durchdenkt man sie gründlich, dürfte sich als ein trojanisches Pferd erweisen. Der Deutschunterricht wird hierdurch der gerade tonangebenden Weltanschauung ausgeliefert, denn wer bestimmt denn, was Diskriminierung ist? Literatur ist nie glattgeschliffen, sondern bildet das Menschsein in allen seinen Brechungen ab – gerade in den widerwärtigen Aspekten. Immer, so der Literaturkritiker Ijoma Mangold, wird Literatur Dinge thematisieren, die wir als Teil unserer eigenen Identität empfinden; gerade dadurch kann Literatur auch verletzen. Können wir denn ernsthaft, fragt er, im großen Stil Aspekte unserer Wirklichkeit ausklammern mit dem Argument, die Menschen seien von ihr, der Wirklichkeit, psychisch überfordert? Der Weg zur Gesellschaft, die Aldous Huxley in „Schöne neue Welt“ beschrieb, wäre dann nicht weit.
Viel Lärm um nichts
Die Mühe der Auseinandersetzung mit der erzählerischen Idee des Autoren hat man offenkundig nicht gesucht. Koeppen legte es gerade darauf an, ein Stimmengewirr erklingen zu lassen. Ohne zensierende Erzählinstanz sollte zur Sprache kommen, was Menschen in der jungen Bundesrepublik sagten und dachten. Dass die Vorwürfe gegen dieses Werk ihren Ursprung in der Anlage des Werks haben, wird gar nicht thematisiert. Stattdessen wird dieses geradezu verketzert. Mehr noch, die Einlassungen und Kommentare hierzu erwecken für den Unkundigen den Eindruck, man habe hier ein vor Hass triefendes Pamphlet in „Stürmer-Manier“ vor sich. Aber vielleicht ist alles am Ende viel Lärm um nichts.
Wahrscheinlich wird auch dieses Buch nur von einem Bruchteil der Schüler gelesen werden. Nicht wenige Schüler machen sich gar nicht erst die Mühe der Lektüre und greifen heimlich zur Zusammenfassung aus dem Internet. Was das mit einer Gesellschaft macht, deren einziger Rohstoff „Bildung, Bildung, Bildung“ sei? Aber dies zu ergründen ist dann doch, um einen anderen Abilesestoff der letzten Jahre zu bemühen, „ein weites Feld“…
Quelle/Autor: Dominik Kern