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Michael Wehner im Interview: Wer bei der Kreisreform die treibende Kraft war
Staatsanzeiger: Welche Überlegungen hatten die Kreisreform vor 50 Jahren angetrieben?
Michael Wehner: Die Kreisreform sollte funktionsfähige und effektive Verwaltungseinheiten schaffen. Man wollte zu kleinteilige Einheiten aufgeben zugunsten von schlagkräftigen Mittelinstanzen. Inhaltlich ging es um die Abwägung, wieviel Bürgernähe brauche ich und wie sehr identifizieren sich Menschen mit den bisherigen Einheiten. Wir haben also ein klassisches Konfliktfeld: die Effizienz auf der einen und Bürgernähe auf der anderen Seite.
Michael Wehner,
Leiter der Außenstelle der Landeszentrale für politische Bildung und Honorarprofessor der Uni Freiburg
In der Denkschrift des Innenministeriums zur Kreisreform von 1969 heißt es, dass sich Bürger mit den neuen Kreisen identifizieren, wenn sie erst deren Vorteile entdeckten. War wohl nicht so.
Arrangiert haben sich die Menschen mit den neuen Einheiten auf alle Fälle: Niemand stellt die Landkreise infrage, jeder nutzt klaglos die Kfz-Stelle für ein neues Nummernschild. Andererseits fragen sich Kreisbewohner in Reißbrett-Konstrukten wie dem Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald, was sie als Kreisbürger von Löffingen auf der Baar mit denen von Müllheim im Markgräflerland gemeinsam haben. Die Sehnsucht nach den alten Kfz-Kennzeichnen zeigt, dass man sich rational arrangiert hat, niemand sich aber mit Leidenschaft als Breisgau-Hochschwarzwälder bezeichnen würde.
Was waren die politischen Hintergründe der Kreisreform?
Wir erlebten die erste Wirtschaftskrise der jungen Bundesrepublik. Das hat die Große Koalition aus CDU und SPD in Bonn geboren. Der Einbruch führte zu Überlegungen, wie man die Kreisverwaltung verschlanken und eben professionalisieren kann.
Das braucht Mehrheiten, wie war die politische Großwetterlage damals?
Nach dem Wechsel von Kurt Georg Kiesinger 1966 ins Bonner Kanzleramt fiel es den damals noch großen Volksparteien auch auf Landesebene leichter zu koalieren, da so weniger Vetospieler die Reformvorhaben infrage stellen konnten. Außerdem hat die nach der Gründung 1952 nicht ganz einfache zweite Volksabstimmung über das Land Baden-Württemberg 1970 mit ihrem Votum für den Südweststaat die Lager politisch eher versöhnt und Widerstände abgebaut.
Antreiber der Kreisreform waren die Sozialdemokraten – warum?
Die Sozialdemokratie ist traditionell eher zentralistisch orientiert. Das spiegelt sich in der Idee wider, Kreise als größere Einheiten zu formen. Dagegen war der Koalitionspartner CDU mehr dem föderalen Gedanken verpflichtet. Wenn man sich die große Zahl der Vetospieler anschaut – Landräte wurden abgeschafft, neue Verwaltungsgrenzen wurden gezogen – würde ich sagen, diese Reform vom Reißbrett aus zu wagen, ist eine sehr anerkennenswerte politische Führungsleistung von SPD-Innenminister Walter Krause.
Mit dem Weggang Kurt Georg Kiesingers nach Bonn zerbrach in Stuttgart die schwarz-gelbe Koalition. Es hätte auch eine Mehrheit im Landtag aus SPD und FDP gegeben. Warum hat die SPD ihre Reformen aus dem Innenministerium und nicht aus der Staatskanzlei vorangetrieben?
Die FDP hatte erst keine Signale an die SPD gesendet, da war die CDU unter Hans Filbinger schneller. Außerdem sollte die Bildung der Großen Koalition in Stuttgart die politischen Verhältnisse in Bonn widerspiegeln.
Wäre eine so tiefgreifende Reform heute noch denkbar?
Wenn ökonomischer Druck zu Überlegungen führt, die Verwaltung zu verschlanken, wäre ein so großes Projekt wie die Kreisreform möglich. Allerdings gibt es heute mehr potenzielle Verhinderer, die ihr Handwerk noch besser beherrschen als die Akteure der 70er-Jahre. Der brandenburgische Versuch einer Kreisreform ist ein gutes Beispiel. Dort sollten aus 14 Kreisen neun werden, was 2017 am Widerstand der Bürger gescheitert ist. Ähnliches würden Politiker in Baden-Württemberg erleben, wenn sie so eine Reform wagen würden.
Das klingt nach sehr engen Spielräumen für grundlegende Veränderungen. Sind wir noch reformfähig?
Grundlegende Reformen sind immer schwierig durchzusetzen. Traditionen, emotionale Befindlichkeiten oder das Gefühl der Zugehörigkeit haben sich über Generationen fest etabliert. Das erschwert Veränderungen. Heute sind Bürgerinnen und Bürger politisch gebildeter als früher und so kommt bei großen Reformwerken nicht nur von Mandatsträgern Widerstand. Oft müssen Politiker feststellen, dass sich Bürger gegen rational begründete Reformen wehren und zum Beispiel Volksbegehren organisieren: Das ist der Preis der Demokratisierung der vergangenen fast 75 Jahre.
Wo wäre für Sie eine Weiterentwicklung der Landkreise denkbar?
Ich denke an die demokratische Legitimation. In Baden-Württemberg war es bisher nicht durchsetzbar, dass Landräte direkt gewählt werden. Das sahen verschiedene Wahlprogramme grün geführter Landesregierungen vor, wurde aber nicht umgesetzt. Ein weiterer Punkt wären Bürgerbegehren auf Landkreisebene, die es in allen Ländern gibt bis auf Hessen und Baden-Württemberg. Die Landkreise sind ja mittlerweile so etabliert, dass man sie bei bestimmten Entscheidungen enger an den Souverän binden könnte.
Was die Kreisreform für den Südwesten bedeutet
Vor 50 Jahren trat die Kreisreform in Kraft. Aus ehemals 63 teils sehr kleinen Landkreisen wurden 35 neue Gebietskörperschaften. Die Große Koalition in Stuttgart zwischen SPD und CDU, sie bestand von 1968 bis 1972, hat das Projekt angeschoben. Die mit der Gebietsreform angedachte große Funktionalreform kam erst 2005 zustande.
In einer Serie befasst sich der Staatsanzeiger mit den Voraussetzungen, Wirkungen und der Geschichte der Kreisreform. In dieser Ausgabe beleuchten wir die politischen Rahmenbedingungen, die zu der Kreisreform geführt haben.