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50 Jahre Kreisreform

Am Schluss bangte Gerlingen um seine Eigenständigkeit

Die Kreisreform 1973 sorgte für Stimmung in den Kommunen. Gerlingen etwa sollte vom Landkreis Leonberg, der auf der Streichliste stand, zum Kreis Ludwigsburg wandern. Dagegen formierte sich Protest. Bei einer Podiumsdiskussion im Gerlinger Rathaus vergangene Woche diskutierten Zeitzeugen über die Situation damals und was daraus geworden ist.
Rainer Haas, Dirk Oestringer, Klaus Herrmann, Albrecht Sellner und Erwin Staudt (von links).

Einst ein Aufreger, heute Anlass zur Gelassenheit: Über die Kreisreform sprachen Rainer Haas, Dirk Oestringer, Klaus Herrmann, Albrecht Sellner und Erwin Staudt (von links).

Schwab)

GERLINGEN. „Leo muss bleiben“ oder radikaler: „Leo darf nicht sterben“ – so lauteten die Protestformeln, an die Moderator und Stadtarchivar Klaus Herrmann erinnerte. Dies unterstrichen die Kreisbürger nicht nur durch Transparente oder Schilder an Autos, sie stimmten bei einer in den Kreisgemeinden Leonbergs abgehaltenen Bürgerumfrage zu über 94 Prozent für den Erhalt des Kreises. Der Landtag ließ sich davon nicht beeindrucken. Der wichtige Sonderausschuss wollte den Kreis Leonberg auflösen, im Juli 1971 verteilte der Landtag Leonbergs Kommunen an Ludwigsburg, Böblingen und den Enzkreis.

Dies konnte der bei der Kommunalwahl 1971 in den Leonberger Kreistag, dem Abwicklungskreistag, gewählte Erwin Staudt nicht nachvollziehen. Der Sozialdemokrat, IBM-Manager und spätere VfB-Präsident fragte sich damals, was seine Heimatstadt Leonberg denn mit Böblingen zu tun habe. Allerdings protestierte er mit angezogener Handbremse. „Wir als SPD waren ja in Stuttgart in der großen Koalition“, das verlangte Parteidisziplin.

Landrat leitet Sitzung mit intellektueller Schärfe

Sein CDU-Kollege aus Gerlingen, der spätere Bürgermeister Albrecht Sellner, wurde von CDU-Stadräten gebeten, als Jurist für den Kreistag zu kandidieren. In Leonberg, so seine Erinnerung, waren die Verhältnisse mit 45 Mitgliedern überschaubar, 1973 in Ludwigsburg mit den über hundert Mandatsträgern war das anders. Ausschüsse waren bereits besetzt, die Neuankömmlinge mussten erst untergebracht werden, über allem präsidierte mit „intellektueller Schärfe“ Landrat Ulrich Hartmann. Dieser sorgte aber auch für Ausgleich und ließ die neuen Räte zu Wort kommen, so Sellner.

Auch in Böblingen verbesserte sich die Atmosphäre bald, so Staudt, der als Leonberger dem Böblinger Kreistag angehörte: „In der ersten Sitzung ist man brutal miteinander umgegangen“, das sei dann schnell besser geworden, obwohl damals die Räte nach Herkunft über den Landrat entschieden. Da die Mehrheit der Stimmberechtigten aus Böblinger Kreiskommunen stammte, wählte man Reiner Heeb (CDU) und nicht den parteilosen Leonberger Landrat Wolfgang Ramsauer zum Kreis-Chef.

Neben den Verwaltungsstrukturen ging es um Themen wie geregelte Müllentsorgung und die Beseitigung wilder Deponien, Berufsschulen, Krankenhäuser – alles Themen, die der damalige Student Staudt als neuer Kreisrat kennenlernte. Längst haben Staudt und Sellner und mit der Kreisreform ihren Frieden gemacht, auch als ehemalige Leonberger Kreisbürger.

Aufregung in die Stadt kam nach der Kreisreform, als der große Nachbar, die Landeshauptstadt Stuttgart, im Mai 1973 über die Gemeindereform Interesse am kleinen Gerlingen zeigte. „Ludwigsburg statt Leonberg, das hatten die Gerlinger noch verschmerzt, aber der drohende Verlust der Selbstständigkeit war der größere Schock für die Bürger“, sagte der frühere parteilose Landrat in Ludwigsburg, Rainer Haas, ein Kind Gerlingens.

Bürgermeister schlägt verlockendes Angebot aus

Der parteilose Bürgermeister Wilhelm Eberhard wurde vom Stuttgarter OB Arnulf Klett (CDU) schwer umworben, erläuterte Stadtarchivar Herrmann. Bei einer Reise des Zweckverbands der Wasserversorgung nach Evian soll Klett ihm angeboten haben, Stuttgarter Kulturbürgermeister zu werden, wenn er für den Anschluss Gerlingens an die Landeshauptstadt stimme. Eberhard schlug den gut dotierten Posten aus: „Lieber erster Mann in Gerlingen als achter Mann unter Klett.“

Die Stadt sammelte derweil Gegenargumente. Herrmann hat einen Vermerk des Stadtbaumeisters ausgegraben, nachdem das ferne Stuttgarter Rathaus die Aufgaben in zwei an Gerlingen grenzende Stadtteilen kaum erfülle. Deshalb solle Gerlingen seinerseits Ansprüche auf die Stadtteile erheben. „Angriff ist die beste Verteidigung“, zollte Bürgermeister Dirk Oestringer (parteilos) Anerkennung. Die Verteidigung war aber gar nicht nötig, die Landesregierung lehnte die Eingemeindung im Juni 1973 ab.
Der damals ins Feld geführte Lastenausgleich, den Stuttgart als Zentrum gegenüber den umliegenden Kreisen reklamierte, wird heute in der Region Stuttgart organisiert. Alt-Landrat Haas erinnert sich noch an die Budgetverhandlungen, bei denen die Beitragsreduzierung der Kreise scheiterte – Beiträge, die über die Kreisumlage und mit Steuergeldern der Umlandbewohner finanziert werden.

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